Object: Der gesetzgeberische Ausbau des Deutschen Reiches und seine Wirtschaftlichkeitspolitik

70 2. Abschnitt. Grundlegung n. Ausbau der Sozial- u. Wirtschaftspolitik. 
tränkung, die systematische Großziehung der Selbstüberhebung, die politisch-parlamen 
tarische Auffassung und Behandlung der rein wirtschaftlichen Lohnfrage — nach dem 
Ziele der Gewinnung von Wahlstimmen — die gleiche „Krankheit" und das gleiche 
Hemmnis für eine dauernde Gesundung, wie der Zunfttraum für den Handwerkerstand *)• 
Die „Erlösung" oder die künftige Erfüllung der gesteigerten Ansprüche an die 
Lebenshaltung und Lebensstellung wird der Menge auf Grund der Hypothese von der 
angeblich auflösenden und zerstörenden Macht des Kapitals plausibel gemacht. Aus 
dem Ueberblick über die gesamtwirtschaftliche Umgestaltung läßt sich aber im Gegen 
teil das Axiom ableiten, das dahin geht: „Die kulturelle Hebung und Stärkung des 
Arbeiterstandes, sowie die industrielle und kommerzielle Leistungs- und Konkurrenz 
fähigkeit stehen miteinander in einer inneren und ursächlichen Wechsel 
beziehung; sie stehen zueinander in dem Verhältnis von Ziel und Vor 
bedingung." 
Es ist dies einer der noch fehlenden Grenzpunkte für die zugunsten der Arbeiter 
klasse verlangten staatlichen Maßregeln und zugleich eine Illustration dafür, wie 
sich das Kapital und die staatliche Reglementierung wechselseitig ergänzen und korri 
gieren müssen und können. Der Gedanke der sozialen Hebung des Arbeiterstandes 
als Vorbedingung für die weitere Entfaltung der technischen Leistungsfähigkeit schafft 
den Boden für eine gegenseitige Verständigung und für ein Zusammenwirken der 
Regierung und der Nächstbeteiligten. 
Dieser Gedanke muß für eine gedeihliche Weiterentwicklung des Arbeiter 
rechts sowie für das Verhalten beider Parteien, also nicht nur für die Arbeiter, 
sondern auch für die Arbeitgeber die maßgebende Richtschnur fein ; weder die 
industrielle Leistungsfähigkeit für sich allein, noch das Arbeiterwohl soll in einseitiger 
Weise den Ausschlag geben; der eine Gesichtspunkt muß sich nach dem andern 
richten -). 
bereit sind, den Begriff des „Mehrwertes" bis zu ihrem Tode zu verteidigen, weil sie davon 
ebenso abhängig sind wie die Unternehmer selbst." Ein anderer Führer der englischen Arbeiter 
partei, I. Nains a y Macdonald, resümiert sich in seiner Schrift über „Sozialismus und Ge 
sellschaft" (S. 114—124) ungefähr dahin: „Der Klassenkampf ist nichts als ein großsprecherisches 
Schlagwort (a grandiloquent and aggressive figure of speech) —. ... Die marxistischen 
Anschauungen über Klassenbildung und Klassenkampf sind wissenschaftlich falsch und politisch verfehlt." 
') Zugleich bildet dies auch eine Krankheit für unser ganzes öffentliches Leben, die noch 
verschlimmert wird durch den Selbstbetrug und Wettbewerb der Parteien, als ob sie den Be 
drängten ein wirksames Heilmittel bieten könnten. Jeder Partei und jedem Abgeordneten liegt 
daran, in jeder Session zu zeigen, daß sie, indem sie alle möglichen Forderungen an die Regie 
rung stellen und längere Reden darüber halten, auch ein Herz für den kleinen Mann, für den Hand 
werker-, Detaillisten- und Arbeiterstand haben. Dieses Verhalten des Reichstags ist nur ein 
Symptom für die Stellung der öffentlichen Meinung. Und doch handelt es sich heute viel mehr 
als um parlamentarische, um die Kleinarbeit der Verwaltung, sowie um ein loyales Zusammen 
wirken des staatlichen und Privatbetriebs. 
2 ) In dieser Hinsicht fehlt es noch hüben wie drüben an Einsicht und gutem Willen. 
Betonen möchten wir hier: das oberste Ziel einer jeden sozialpolitischen Maßnahme muß sein: 
„Schaffung lohnender und dauernder Arbeitsgelegenheit." Es ist dies der gleiche entscheidende 
Gesichtspunkt wie ihn z. B. Calwer auch gegenüber dem Zollschutz anerkennt. 
Naturgemäß wirkt die Produktivität und Rentabilität der Gesamtindustrie auf die Lage 
der Arbeiter zurück. Daß ein normaler Geschäftsgang eine Erhöhung der Tätigkeit und der
	        
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