ALLGEMEINE EINLEITUNG
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DızE ENTWICKLUNG
DER OBLIGATORISCHEN KRANKENVERSICHERUNG
Trotz ihrer nicht zu unterschätzenden Ergebnisse erweist sich
sonach die freiwillige Versicherung als nicht ausreichend. Das
einzige Mittel zur Durchführung ‘ eines allgemein wirksamen
Versicherungsschutzes ist in der Pflichtversicherung zu erblicken.
Der moderne Staat, der über die Volksgesundheit und die
nationale Wohlfahrt zu wachen hat, ist daher nach allgemeiner
Ansicht zur Einführung der Pflichtversicherung berechtigt und
verpflichtet. Selbst überzeugte Liberale sind der Auffassung, dass
in einer gut organisierten Gesellschaft der einzelne sich nicht hinter
eine Fürsorgefeindschaft verschanzen darf, deren Betätigung ihn
gegebenenfalls zu einer Last für die Allgemeinheit machen würde.
Dieser Auffassung erscheint der Eintritt in eine Versicherung als
eine soziale Pflicht, deren Erfüllung der Staat im allgemeinen
Interesse erzwingen kann.
Das Deutsche Reich richtete zuerst eine Krankenpflichtver-
sicherung für die Lohnbezieher der Industrie im Jahre 1883 ein;
auf Versuche zur Entwicklung der freien Fürsorge wurde dabei
Verzicht geleistet. Die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf
die Lohnbezieher des Handels erfolgte schon 1885 und auf die
Lohnbezieher der Landwirtschaft 1886. Das ohne Zweifel
ainem politischen Hintergedanken entsprungene Werk Bismarcks
wurde zuerst von der deutschen Arbeiterklasse mit grösster Erbit-
terung bekämpft. Es hatte in ihren Augen den Zweck, das Prole-
tariat an den Staat zu ketten, der gleichwohl den kapitalistischen
Aufbau der Erzeugung zu verteidigen entschlossen schien. Im
sozialen Kampf konnten die vielen Hilfs- und Fürsorgekassen,
welche den Gewerkschaften angegliedert waren, eine furchtbare
Waffe werden, und Bismarcks Werk zielte darauf ab, diese Waffe
den Berufsorganisationen zu entwinden. Sein Werk wollte die
materielle Existenz der Arbeiterklasse sichern und damit der
sozialistischen Propaganda einen Riegel vorschieben.
In seinem dreigliedrigen Pflichtversicherungssystem, das 1883
bis 1889 zur Entwicklung gelangte, wurde die Versicherungspflicht
hoch durch die Beitrittspflicht zu einer bestimmten Kasse ergänzt.
Dies bedeutete natürlich eine Beeinträchtigung der gewerkschaft-
lichen Kassen, aber welche Absichten die Urheber der Kranken:
pflichtversicherung auch verfolgt haben mögen, unleugbar hat
die deutsche soziale Versicherung einen grossen Einfluss auf die
Gesetzgebung vieler Länder ausgeübt.