Full text: Die Lehren des Marxismus im Lichte der russischen Revolution

mögen auch diese Behauptung des wissenschaftlichen Sozia- 
lismus nicht gutzuheißen. 
Schalten wir wiederum die das Problem verdunkelnden, so- 
zialen Beziehungen aus. Gesetzt, wir hätten zwei soziali- 
stische Republiken in gleichen Naturbedingungen mit glei- 
chem Kapitalvorrat und gleichermaßen fleißiger und geschick- 
ter Arbeiterschaft vor uns. Nur ein einziger Unterschied 
besteht zwischen den beiden. In der einen Republik hat die 
Arbeiterschaft vom Zeitalter des Kapitalismus eine in diesem 
sehr verbreitete Eigenschaft — die Umsicht — geerbt. Dank 
dieser Eigenschaft bewahrt sie nicht nur das alte Kapital, 
sondern vermehrt es von Jahr zu Jahr. Die Arbeiterschaft 
der zweiten Republik leidet hingegen an einem gewissen Man- 
gel an Umsicht. Daher verringert sich ihr Kapital jahraus, 
jahrein. Werden die Dinge denselben Lauf auch weiter 
nehmen, so wird die Arbeiterschaft der ersteren Republik 
immer reicher werden: sie wird ihre Bedürfnisse immer yoll- 
ständiger befriedigen, und es wird ihr immer leichter fallen, 
ihr Kapital zu vermehren. Im Gegenteil: die Arbeiterschaft 
der zweiten Republik wird, trotzdem sie ebenso fleißig und 
geschickt ist, immer ärmer werden; und wenn die Not sie 
schließlich auch klüger machen wird, so wird ihre Lage, in- 
folge der geringen Produktivität ihrer kapitalarm geworde- 
nen Volkswirtschaft, nur schwer zu bessern sein. Freilich 
die reiche aber friedliche sozialistische Republik wird nun 
nicht mit Dreadnoughts, Zeppelins und weittragenden Ka- 
nonen anrücken, um die arme Nachbarin nach imperialisti- 
scher Art, wie es unter dem Kapitalismus denn auch nicht 
selten geschah, zu unterwerfen. Vielmehr ist zu vermuten, 
daß, nachdem sich die eigene Volkswirtschaft mit Kapital 
gesättigt haben wird, sie den Überschuß der verarmten Nach- 
barin gegen einen gewissen Zinssatz anbieten und durch das 
zur Zinsgewinnung ausgeliehene Kapital einem befreundeten 
Volke, das durch eigenen Leichtsinn der Armut verfallen 
war, aus der Not heraushelfen wird. 
Dieses Beispiel, das wir abermals absichtlich so gewählt 
haben, daß soziale Beziehungen nicht hineingreifen, zeigt uns 
deutlich, daß die Arbeit zwar ein unentbehrlicher Faktor jeg- 
licher Produktion, folglich auch der Produktion von Kapital 
sei, daß aber die Produktion, und folglich auch 
die Arbeit, als solche, noch kein Kapital er- 
schaffen. Für die Schaffung und selbst für die Bewahrung 
55
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.