Gewiß, der Sozialismus stellt zum Trost über diesen Ver-
lust der Freiheit die Behauptung auf, daß sich auch in der
bürgerlichen Gesellschaft unter der formalen Freiheit tat-
sächlich eine Negation derselben, eine Vergewaltigung des
wirtschaftlich Schwachen durch den wirtschaftlich Starken
verborgen habe. An dieser sozialistischen Kritik der kapita-
listischen Freiheit ist wenn auch nicht alles, so doch vieles
wahr. Daher haben sich denn auch die modernen Demokra-
tien von dem bürgerlichen Grundsatz ‚„laissez faire, laissez
passer‘‘ losgesagt; in das System der freien Tauschwirt-
schaft sind bereits viele Korrekturen eingeführt, deren. Zweck
die Stärkung der Lage der wirtschaftlich Schwachen ist, und
noch viele andere Verbesserungen müssen erst geschaffen
werden. Allein dadurch wird freilich die Sache der persön-
lichen Freiheit nicht gewinnen, daß diese nun sowohl in for-
maler Hinsicht als auch in ihrem inneren Wesen ja über-
haupt abgeschafft werden wird 1).
Worin besteht dann aber der Sinn der Worte von Marx
und Engels vom Sozialismus als von einem „Reiche der
Freiheit‘? Ist es doch keine Redensart, die ihnen nur zu-
fällig entschlüpft ist, sondern eine der Grundlagen ihrer
Lehre von der Gesellschaft der Zukunft.
Der Sinn dieser Worte ist folgender: Der Entwicklungs-
gang der kapitalistischen Gesellschaft ist ein elementarer
Vorgang. Jedes Mitglied dieser Gesellschaft nimmt zwar
Teil an der Gestaltung der Beziehungen der kapitalistischen
Wirtschaft, dennoch treten diese sowohl der Allgemeinheit
als dem einzelnen als etwas objektir Gegebenes, das weder
1) Die Unvereinbarkeit der sozialistischen Gesellschaftsordnung mit der
individuellen Freiheit war für alle die klar, die sich bemühten, in seine
Struktur tiefer einzudringen, selbst wenn sie hierbei von den Prämissen
des wissenschaftlichen Sozialismus ausgingen. Diese Unvereinbarkeit
stellten nicht nur die bekannten Gegner des Sozialismus, wie Spencer
und Eugen Richter, fest, sondern auch, zum eigenem Leidwesen wie zu
dem seiner Leser, ein so warmer Verehrer des Sozialismus wie M.
Tugan-Baranowskij, der seinen Schwanengesang dem Sozialismus widmete,
„Die im sozialistischen Staat herrschende Zentralisation,‘“ sagt Tugan-
Baranowskij, „setzt einen strengen Gehorsam der einzelnen Persönlich-
keit dem Befehl der Zentralgewalt gegenüber, eine Abtretung der
gesamten wirtschaftlichen Initiative und der ganzen Verantwortung für
das regelmäßige Funktionieren der Volkswirtschaft an die gleiche Zentral.
gewalt voraus — und entspricht daher nicht dem Ideal der größtmög-
lichen Freiheit der Persönlichkeit“ („Der Sozialismus als positive Lehre“,
russ, S.83.) Hierbei drückt sich Tugan-Baranowskij als ein Verehrer des
SoriasKemus natürlich ziemlich mild aus.
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