ZWEITER TEIL: DER VERKEHR
verkehr in Betracht kommen, sondern daß weitaus am stärksten der-
jenige Teil der Westküste beteiligt ist, an dem die Staatengebiete
Frankreichs, Englands, Belgiens, der Niederlande und Deutschlands
das Meer berühren, so erkennt man, daß dieser Teil des europäischen
Kontinentes das eigentliche Herz des Weltseeverkehrs ist, von
dem aus der Strom des Verkehrs mit kräftigstem Pulsschlag bis in die
entferntesten Adern des weitverzweigten Organismus getrieben wird,
um von ihnen immer wieder nach diesem Herzen zurückzukehren.
Daraus aber, daß der große Krieg gerade in diesem Gebiete seinen
Brennpunkt hatte, erklärt sich außer durch die Gesamtverflechtung des
weltwirtschaftlichen Getriebes die ungeheure Erschütterung, die der
Weltseeverkehr in den hinter uns liegenden Jahren erfahren und bis
heute noch nicht überwunden hat.
Meerengen und Flottenstützpunkte. Im offenen, d. h. küstenfernen
Meere ist die Lage der Schiffahrtsstraßen im wesentlichen bedingt
durch das Streben nach Zeitgewinn, also nach einem möglichst gerad-
linigen Wege. Dieser erfährt nur gelegentlich geringe Abbiegungen
durch die Rücksicht auf notwendige Zwischenstationen bei weiten Ent-
fernungen, auf regelmäßige Winde und Strömungen oder auf gewisse
Gefahren der Schiffahrt, wie sie ihr z. B. im nördlichen Atlantischen
Ozean durch das Auftreten von Eisbergen während des Sommers drohen.
Wo aber wichtige Schiffahrtslinien in der Nähe der Küste oder durch
Nebenmeere verlaufen, sind sie in ihrer Lage natürlich durch die
Gestaltung des benachbarten Festlandes bedingt. Ihre Abhängigkeit
von diesem wird da am stärksten, wo sie auf mehr oder weniger
schmale Wasserflächen, auf Meerengen, angewiesen sind. Hier ver-
einigen sich die Linien, die von allen Richtungen des landfernen,
freien Meeres kommen, zu Bündeln, um in forartig engen Durchfahrten
die benachbarte freie Meeresfläche zu gewinnen. An solchen Durch-
fahrten besitzt die Nordatlantische Route nur eine, die Straße von
Dover, die Sueslinie aber deren viele.
Diese Tore des Seeverkehrs sind also die wichtigsten Sammelstellen
des Verkehrs, und an ihnen liegen deshalb die ältesten, meist auch
heute noch bedeutsamen Seehandelsplätze. Es sei nur an Kopenhagen,
an die Häfen des Ärmelmeeres, an Gibraltar, Konstantinopel und
Singapur erinnert. Sie haben aber auch noch eine andere große
Bedeutung, indem sie ihre Besitzer zugleich zu Herren derjenigen
Meere und Meeresteile machen, zu denen sie den Zugang bilden. Die
Stellung der Hansa und später Dänemarks am Sund machte diese
Mächte zu Beherrschern der Ostsee. England ist durch Gibraltar und
Sues der eigentliche Herr des Mittelmeers. Der Besitzer der Darda-
aellen und des Bosporus beherrscht das nordöstliche Tor des Mittel-
meeres und die Schiffahrt im Schwarzen Meer, daher das jahrhunderte-
lange Ringen um diese Meerengen zwischen der Türkei und Rußland
und zuletzt auf den Konferenzen von Lausanne (1922 und 1923)
zwischen der Türkei und England. Die Bedeutung solcher Seetore
beruht im wesentlichen darauf, daß an diesen Stellen der Seeverkehr
der betreffenden Linie leicht zu überwachen ist. was im offenen Meere
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