554 [X. Kapitel. -
rechnung durch besondere Weisung zu veranlassen, so ist auch jener
Befehl in unserem Falle kein „Staatsherrscherbefehl‘“, sondern lediglich
ein „ungültiger staatlich gemeinter Befehl‘‘ gewesen. Man nennt also
das in „‚ungültigen staatlich gemeinten Befehlen‘‘ Beanspruchte „Recht“!
Daß man aber nicht auch den Befehl irgend jemandes, der völlig
wirkungslos zu einer Volksversammlung sprechend, sich als Staats-
herrscher „aufwerfen‘“ will, als „Recht‘“ betrachtet, schreibt sich nur
daher, daß man in unserem Falle „ungültige staatlich gemeinte Be-
fehle‘‘, also Befehle, die zumindest in Beziehung zu besonderen Seelen
keine „Staatsherrscherbefehle‘“ waren, als „‚Staatsherrscher-
befehle‘, also als „gültige staatlich gemeinte Befehle‘ betrachtet,
weil der besondere Befehlende sich in anderer Beziehung als Staats-
herrscher erwiesen hat, was auf die geradezu verblüffend unsinnige Be-
hauptung hinausläuft, daß jemand, der in besonderer Beziehung
„Staatsherrscher‘‘ ist, auch in allen übrigen Beziehungen „Staats-
herrscher‘“ ist, daß also, wenn jemandes besondere Befehle gültig
sind, nämlich erfüllt werden, auch seine sonstigen Befehle gültig
sind, obwohl sie nicht erfüllt werden.
Prüfen wir nun überhaupt jene Lehre, nach welcher „Recht‘
nicht die Macht ist, einem Anderen durch Herbeiführung eines Rechts-
verfahrens besonderes Verhalten ungünstig zuzurechnen, sondern als
ırgend etwas schon mit der Tatsache besteht, daß besonderes Verhalten
jemandem befohlen wurde, so stoßen wir sozusagen in den Kern jenes
xegensatzes vor, der mit den berühmten Worten ‚‚Naturrecht— positives
Recht‘ bezeichnet wird. Als „naturrechtliche Lehre‘ können wir
ıämlich im weitesten Sinne alle jene Behauptungen bezeichnen, nach
welchen schon mit der Tatsache bloßer Ansprüche, die darauf
zerichtet sind, für den Ansprucherheber oder für einen Anderen ein
„Recht“ zu begründen, ein „Recht“ vorhanden ist, als „positivistische
Rechtslehre“ können wir hingegen alle jene Behauptungen bezeichnen,
nach welchen nur mit besonderer Macht jemandes ein „Recht“ vor-
aanden ist, Die beiden Glieder des Gegensatzes ‚„‚Naturrecht— positives
Recht‘“ sind freilich durch die gebräuchlich gewordenen Worte ‚„Natur-
recht—positives Recht‘ nicht gerade glücklich bezeichnet und wären
durch die zutreffenden Worte „mit einem Anspruche erstrebtes
Recht“ und „Recht“ zu bezeichnen, bei welchem Wortgebrauche
sich sogleich zeigt, daß das Wort „positiv“ in der Wortverbindung
„positives Recht‘ eigentlich den Sinn „besondere Macht‘, „Recht
als besondere Macht‘ hat, während das Wort „Naturrecht‘“ (oder auch
„Vernunftrecht‘) gar kein in der Welt vorhandenes ‚„‚,Recht‘‘ bezeichnet,
sondern ein „Recht‘“, dessen Begründung mit besonderem AÄnspruche
arstrebt wird, also ein „Recht“ als Gewußtes besonderen Anspruches,
nicht aber als eine besondere in der Welt vorhandene Lage. Man