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ständen annimmt, und da es sich nur um Größen handelt, so kann
jede solche konstante Beziehung in einer Differentialgleichung aus-
zedrückt werden. Das ist der Sinn, wenn H. Poincare das Natur-
gesetz als Differentialgleichung bezeichnet. Diese Differential-
gleichungen, die also die Veränderung der Kraftgrößen und der
Krafirichtung beim Durchwandern des Raums und ihr gleich-
bleibendes Verhältnis zueinander darstellen, beschreiben, wie man
es nennt, das Kraftfeld: sie drücken die gleichbleibende Beziehung
zwischen der Erscheinung von heute und der von morgen aus und
ersetzen das Erkenntnismittel der Substanzialität oder Identität des
Dinges mit sich. Man bezeichnet sie als „Mikrogesetze‘“, die dann
integriert werden, um Gesetze festzustellen, „welche die Abhängig-
keit der Naturprozesse voneinander über größere, wahrnehmbare und
daher direkter Messung zugängliche Erstreckungen wiedergeben“
(Schlick), die sogenannten „Makrogesetze“, die also Äußerungen der
Mikrogesetze sind, etwa wie das Newtonsche Gesetz.
Das ist, wie ich es verstehe, das Verfahren der exakten Natur-
wissenschaft, insbesondere der Physik, deren oberstes Ziel es danach
ist, „Gesetze“ zu formen, Formeln zu prägen, in denen für die Be-
wegungen, als die einzigen Vorgänge in der Natur, denen man sein
Augenmerk noch zuwendet, bestimmte Regelmäßigkeiten festgestellt
werden.
Grundsätzlich verfahren die anderen Naturwissenschaften
ebenso, indem sie äußerlich erfaßte Naturerscheinungen ordnen.
{hr Ideal bleibt dabei die „Exaktheit‘“ der physikalischen Wissen-
schaften. Ihre Ordnungsprinzipien sind zum Teil dieselben, zum Teil
andere. So die Klassifikation in der Botanik und Zoologie, soweit
diese Wissenschaften nicht mit den Methoden der Physik und Chemie
betrieben werden; Anpassung, Auslese, Ausmerzung in der Biologie
und Zoologie; „regulative Ideen‘, wie die Idee des „Organismus“
als Fiktion u. a.
Durchaus als Reaktion gegen diese heute in den Naturwissen-
schaften herrschende Denkweise ist die Bewegung des Neo-Vitalismus
zu betrachten, die aber doch nur die Auflehnung des Philosophen
gegen den Naturwissenschaftler ist, dieselbe, die schon Aristoteles
gegen Democrit ins Werk setzte.