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Man kann dies Verfahren, das ich Sinnerfassen nenne, auch be-
zeichnen als Ableitung aus dem Grunde, bei dem der Grund selbst
bekannt ist.
Blicken wir hingegen auf das Ergebnis des Verstehens, so können
wir dieses als Wesenserkenntnis bezeichnen. Denn wenn wir uns
der Merkmale erinnern, die diese aufweist, so finden wir sie bei dem
Wissen, das wir durch Verstehen gewinnen, sämtlich wieder. Das
heißt: wir erfassen eine Erscheinung, die wir „verstehen“, in ihrer
Gänze (soweit sie zu dem Sinnzusammenhang Beziehung hat), wir
sehen ein, warum sie so und nicht anders sein muß und begreifen,
warum sie immer so sein muß, solange sie an dem Sinne teil-
nimmt, aus dem heraus wir sie „verstanden“ haben.
Das Verstehen stillt also vollständig Fausts Sehnen:
„Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau alle Wirkenskraft und Samen
Und tu’ nicht mehr in Worten kramen . . .““
„Die Welt“, das ist freilich nur die Welt des Menschen, ‚,die kleine
Narrenwelt“, die sich „gewöhnlich für ein Ganzes hält“. Und wollen
wir nicht „in unserer Gottähnlichkeit bange‘“ werden, angesichts der
Tiefe unserer Erkenntnis, die wir auf dem Wege des Verstehens ge-
winnen, so brauchen wir uns nur darauf zu besinnen, daß ja hinter
den „Erscheinungen“, die wir „verstehen“, — nichts ist, daß bei aller
unserer Einsicht in Menschenschöpfungen „nichts dahinter ist‘. Hinter
dem Duft einer Rose, hinter dem Gleitflug eines Vogels, hinter der
Bildung eines Kristalls liegt eine Welt von Wundern, die unserem
erkennenden Verstande ein ewiges Geheimnis bleibt; hinter einer
Flasche Parfüm, hinter einem Luftschiffe, hinter einem Industrie-
konzern steckt tatsächlich — nichts.
Die letzten Betrachtungen haben uns schon an eine Frage heran-
geführt, die sich uns aufdrängt, wenn wir die Wirkung des Ver-
stehens uns vor Augen führen, an die Frage: Wie erklärt sich die
unermeßliche Überlegenheit dieser Erkenntnisart gegenüber
allem Naturerkennen? Würde ich nicht fürchten, des Zynismus ge-
ziehen zu werden, so würde ich auf diese Frage antworten: die
scheinbar so tief dringende Erkenntnis durch Verstehen beruht auf