30 2. Abschnitt. Grundlegung u. Ausbau der Sozial- u. Wirtschaftspolitik.
Bis in die 60er Jahre gingen Liberalismus und Sozialismus Hand in Hand
in der Bekämpfung des veralteten Zunftzwanges, und der polizeilichen Gebundenheit,
worin sie ihren gemcinsametl Feind sahen. Nachdem jedoch diese gemeinsamen Be
strebungen zur Niederwerfuug der zünftlerischen Schraukeu gefiihrt hatten, brach
der innere Gegensatz zwischen den bisher Verbündeten grell hervor. Dem Sieg der
liberalen Ideen folgte auf dem Fuße ihr Niedergang.
Kaum war das Freiheits- und Fortschrittsideal des Liberalismus — Mitte
der 70er Jahre — verwirklicht, so wurde es erweitert durch den Gedanken der
wirtschaftlichen Gleichberechtigung der Arbeiterklasse lind Beschränkung der Unter
nehmerklasse. Der Sozialismus wurde zu dem ben Individualismus und das bis
herige Ideal der Konkurrenzfreiheit zurückdrängenden Fortschrittspriilzip und zum
Wegweiser für die Wirtschaftspolitik, die den bisherigen Mittelpunkt der
Staatsverwaltung gebildet hatte. Die Reichsregierung versuchte die Lösung des
sozialen Problems durch das System staatlicher Protektion der Kapitalschwachen
gegen die Uebermacht des sich ausbreitenden Kapitals (genauer der Großver
mögen).
Besonders empfindlich machte sich seit Mitte der 70er Jahre, als man anfing
die Gewerbe- und Verkehrsverfassung auszubauen, eine bisher unbekannte Erscheinung,
ein dauernder Druck aus die Preise der Rohprodukte und Stapel
waren, sowie ein ständiges Angebot und eine scheinbare Ueberproduktion an Kraft
und Menge und damit zusammenhängend eine kontinuierliche Verschärfung der Unter
bietungskonkurrenz bemerklich.
In den ersten Jahren gab man sich der Hoffnung hin, der Druck sei
wie die Krisen früherer Jahre vorübergehend; man erblickte seine Ursache in einer
wirklich vorhandenen Ueberproduktion. Tatsächlich aber war der Preisdruck und die
stetige Konkurrenzverschärfung nur das Symptom eines Prozesses der Weiter
entwicklung, der jahrzehntelang anhielt, dessen neuartige Teilerscheinungen eine Modi
fikation der hergebrachten Lehrsätze und Schlußfolgerungen der Nationalökonomie, die
noch bis in die siebziger Jahre ihre Berechtigung gehabt, notwendig machten.
Eine Begleiterscheinung war die Vermehrung und Mobilisierung der
Prodnktionsfaktoren, des Kapitals, der Arbeitskräfte (Abwanderung vom Land, Bildung
der Großstädte und Jndustriebezirke), des Kredits, des Konsums und des Absatzes
und im gleichen Schritt damit die „Industrialisierung" und „Kommerzialisierung",
in weiterer Folge die Konzentration und Jnternationalisierung des ge
samten Wirtschaftslebens. Auf Grund dessen gewann letzteres, d. h. Pro
duktion, Konsum und Verkehr in kurzer Zeit einen anderen Charakter.
Alle diese neuartigen Erscheinungen ließen sich nicht in die landläufigen Kate
gorien der Nationalökonomie einzwängen. Zudem war die Anpassung an die ver
änderten Verhältnisse für alle Bevölkerungsklassen mit vielen Mühen und Opfern
verbunden. So wurde von den siebziger Jahren an die Frage aktuell: Erwächst von
selbst eine Jnteressenharmonie? Ist die fortschreitende Industrialisierung und Kon
zentration eine Entwicklung, die höher führt, eine Vorstufe für den weiteren Aufbau
zur Besserung? Soll die Regierung sie ungestört ihren Gang gehen lassen, oder soll
sie dem Jnteressenkamps (o'\c§ insbesondere zum Schutz und zur positiven Förderung,
der bedrängten Klassen) geregelte Bahnen anweisen?
Mit der Bejahung der letzten Frage wurde die staatliche Regelung des