32 2. Abschnitt. Grundlegung u. Ausbau der Sozial- u. Wirtschaftspolitik.
der Innungen und Wiedereinführung des Befähigungsnachweises war*). Mit dem
Kampf um den Zunftzwang begann nun eine dreißigjährige vielseitige Agitation gegen
die Reichsgewerbeordnung und ihr Grundprinzip. In der ganzen Rechtsgeschichte
gibt es wohl kein Gebiet, auf dem in wenigen Jahrzehtlten an einem neu er
lassenett Gesetz so viele uttd so einschneidende Aenderungen vorgenommen worden sind,
ivie an der Reichsgerverbeordnung und besonders an dem Teile, der sich auf das
Kleingewerbe bezieht. Schon äußerlich stellt sich die Gewerbeordnung heute nicht als
ein aus einem Guß hervorgegangenes Gesetz, sondern als eine „Novellensammlung"
dar. Die verschiedenett Novellen bezeichneir ebensoviele Etappen in dem sich ab-
spielenden Kamps gegen das liberale Prinzip der Koukurrenzfreiheit.
Eine andere Seite ist die pessimistische Uebertreibung des Prozesses der „Ex
propriation" der Kleingewerbe. Mit ihr verhält es sich wie mit dem landwirt
schaftlichen Notstatld: je mehr man sich Mühe gibt, den Notstand statistisch zu fassen,
um so deutlicher findet man statt des behaupteten Rückgangs eine Zunahme der Be
triebe, eine Abnahme der Verschuldung. Das Ergebnis der modernen Verschiebung
geht dahin: in den letzten fünf Jahrzehnten hat das Handwerk, das ungeachtet des
Verlustes verschiedener Erwerbszweige heute noch l 3 /* Millionen Meister zählt, an
selbständigen Berufsstellen nicht verloren, sondern 300000 neue erhalten und außerdem
im Einkommen und in der Verdienstgelegenheit beträchtlich gewonnen.
Die Novelle vom 18. Juli 1881 stellte den öffentlich rechtlichen Charakter der
Innungen wieder her; ihre Rechte wurden durch die Gesetze vom 8. Dezember 1884
und 6. Juli 1887 nach und nach ausgedehnt, sogar auf die Befugnis, die Nichtinnungs
meister zu Beitrügen für die Juuungsschulen und Jnnungsherbergen heranzuziehen.
Trotz dieser Begünstigung faßten die Innungen in Rheinland und Westfalen, in den
thüringischen Staaten, in Elsaß-Lothringen und in Süddeutschland keine triebkräftigen
Wurzeln. Wohl gaben einige Gewerbezweige, namentlich das Fleischer- und Bäcker
gewerbe, einen gedeihlichen Nährboden für freiwilligen Zusammenschluß ab. Aber
davon abgesehen, wollte die Innung in Süddeutschland gn einem rechten Gedeihen
nicht gelangen. Die geplante Organisation des gesamten deutschen Handwerks kam
aus dem Wege der gesetzlichen Privilegierung, wie die Jahrzehnte alte Erfahrung
erwies, nicht zustande.
Zu Ansang der 80er Jahre suchten sich drei Systeme, die sich gegenseitig aus
zuschließen schienen, im Reich Geltung zu verschaffen. Das eine, in Norddeutschlaud
vorwiegende, wollte sich auf die Staatshilfe und den Gesetzeszwaug beschränken in
der Richtung, daß die Zwangsorganisation der kleingemerblichen Interessenvertretung
mit der obligatorischen Meisterprüfung verknüpft werde. Das andere, hauptsächlich
in Süddeutschland herrschende, beschränkte sich in der Hauptsache aus die gewerb
liche Bildung. Das dritte suchte beide Mittel, Innung und Fortbildung, zu
kombinieren und wurde hauptsächlich in Sachsen durchzuführen gesucht.
Es handelte sich demgemäß: 1) um eine staatliche Rettungsaktion,
2) um die Frage, ob der gewerblichen Genossenschaft und dem Jnnungszwang noch
eine belebende Kraft innewohne? In der Innung an sich liegt ein gesunder und ganz
moderner Gedanke: sie bildet die Brücke zwischen dem Individualismus und der För-
') Bezeichnenderweise hatte man auf allen diesen Versammlungen für die Frage der
Lehrlingsfortbildung nur wenig übrig.