28
scher Landwirtschaft erfüllt sind, finden wir den Pächter.» 1 ) Diese Worte
Sombarts passen vollständig auf die neurussischen Gouvernements. Die
grossen Gutswirtschaften einerseits und der Umstand, dass meistens nicht
Lust und Fähigkeit, eine Gutswirtschaft zu führen, sondern entweder ein
Standesvorrecht oder überhaupt eine Zufälligkeit den Grossgrundbesitzer
diesen Beruf ergreifen lassen, machen die Entstehung des Pachtsystems
unumgänglich. 2 ) In den neurussischen Gouvernements finden wir daher
eine starke Entwicklung des Pachtsystems.
Die Bewirtschaftung der Gutswirtschaft kommt in Neurussland in
dreierlei Form vor: in der Form der Selbstbewirtschaftung (zu dieser
Form gehört auch die Bewirtschaftung durch die Administration), in der
Form einer Pacht, langfristiger oder einjähriger, in Neurussland kurz
«Uebernahme» genannt. Die letzte Form der Pacht geschieht in der
Regel pro 1 Dess. und kommt nur für die Kleingrundbesitzer in Betracht.
Es sind mehr die Bedürfnisse seitens der Pächter als die seitens
der Gutsherren, die diese Form der Bewirtschaftung des Landes hervor-
rufen. Die Pächter sind unter den Bauern gewöhnlich die Kleinbesitzer,
am meisten diejenigen, deren Besitz schon an der Grenze der Besitz
losigkeit steht. Eine grosse Not an Land und an Geld und Unsicherheit
der gesamten Lage ihrer Wirtschaft gestattet ihnen, das Land nur auf
ein Jahr zu übernehmen; ausserdem will auch der Gutsherr das Risiko
der Verpachtung nur auf ein Jahr übernehmen. Eine solche Pacht wird
zu einer «Nährpacht», da der das Land übernehmende bäuerliche Klein
besitzer durch die Zupachtung sein Ackerland nur zum Zwecke des eigenen
Unterhaltes vergrössern will. Je mehr es in einer Gegend besitzlose
Bauern gibt, desto dringender wird die Nachfrage nach einer solchen
«Landübernahme» (Sjemka). Durch eine starke Nachfrage werden die
Bodenpreise bis zum Aeussersten erhöht, so dass der Pachtschilling auch
den Arbeitslohn der Bauern verschlingt. In der russischen Literatur
wird eine solche einjährige Kleinpacht «Hungerpacht» genannt. Die
Form der Verpachtung hat in Neurussland ihre Geschichte. Durch die
Aufhebung der Leibeigenschaft, die in ganz Russland den Gutsbesitzern
die unentgeltlichen Arbeitskräfte entzog, haben die Gutswirtschaften in
den südrussischen Gouvernements viel weniger als in den übrigen Gou
vernements Russlands gelitten. Es erklärt sich dadurch, dass in den
neurussischen Gouvernements die Gutsbesitzer durch die grossen Um
fänge ihrer Wirtschaften genötigt waren, auch vor der Aufhebung der
b Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im XIX. Jahrhundert, S. 386.
2 ) Vgl v. d. Goltz: Landwirtschaft, I. Teil, in Schönbergs Handbuch der politischen
Oekonomie, II. Ausg. Bd. II. S. 108.