Full text: Volkswirtschaftliches Lesebuch für Kaufleute

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Zweiter Teil. Landet. I. Die Volkswirtschaft. 
Am dieser Ziele willen muß das einzelne Individuum und muß auch die einzelne 
Volkswirtschaft die Gefahren der Abhängigkeit von einer größeren Gesamtheit in Kauf 
nehmen. Sie können das um so leichter, als gegen diese Gefahren eine natürliche 
Gegenwirkung in der Wechselseitigkeit des Abhängigkeitsverhältnisses gegeben ist: wo 
der einzelne ganz und gar auf sich selbst steht, kann er den andern schweren Schaden 
tun, ohne sich selbst zu treffen; je mehr aber der einzelne durch tausenderlei Fäden mit 
seinen Nebenmenschen verbunden ist, desto mehr wird er selbst in Mitleidenschaft ge 
zogen durch die Wunden, die er anderen schlägt. 
Was von den Individuen gilt, hat seine Richtigkeit auch für die Staaten. Die 
mehr oder weniger feststehenden natürlichen Grundlagen, sowie die historisch gewordenen 
ökonomischen und kulturellen Bedingungen der internationalen Arbeitsteilung, die sich 
gleichfalls nicht von heute auf morgen willkürlich umgestalten lassen, stellen für den 
internationalen Warenaustausch ein durch wechselseitige Interessen gesichertes Fundament 
dar; die Abhängigkeit, in die der internationale Warenaustausch die einzelnen Volks 
wirtschaften bringt, wird dadurch gemildert, daß sie — wenigstens im großen ganzen 
— eine gegenseitige ist. Die Länder, an die wir unsere Industrieprodukte absehen, 
haben ein Interesse daran, daß wir ihnen ihre überschüssigen Erzeugnisse, insbesondere 
Nahrungsmittel und Rohstoffe, abnehmen. 
Freilich berechtigt diese Auffassung keineswegs zu einer völligen Passivität gegen 
über den Problemen des auswärtigen Landels. Die allmählich sich vollziehenden 
Änderungen in wesentlichen Grundlagen der intcrnaüonalen Arbeitsteilung, Ver 
schiebungen in der Bevölkerungsdichtigkeit, der wirtschaftlichen Intelligenz und Energie 
und der technischen Ausbildung von Unternehmern und Arbeitern, dem Kapitalreichtum 
usw. mit ihrer Wirkung auf die Produktions- und Nachfrageverhältnisse in der 
Weltwirtschaft, — das alles sind Vorgänge, durch die jedes einzelne Land vermittels 
seiner Export- und Importbeziehungen stark in Mitleidenschaft gezogen werden, und 
durch die es in seiner wirtschaftlichen Struktur unter schweren Krisen für seine 
ökonomische Lage entscheidende Veränderungen erfahren kann. Dazu kommen die 
handelspolitischen Maßnahmen fremder Völker, die bestimmt sind, Veränderungen in 
dem internationalen Warenaustausch hervorzubringen oder zu beschleunigen. 
Aber auch schon im Ruhezustände — ganz abgesehen von allen sich im Laufe 
längerer oder kürzerer Zeit vollziehenden Verschiebungen — ist bei aller Gegenseitigkeit 
des Abhängigkeitsverhältnisses der miteinander im Landelsverkehr stehenden Länder die 
Position der einzelnen Volkswirtschaften von verschiedener Stärke. 
Der kapitalkräftige Unternehmer ist zur Nutzbarmachung seines Vermögens an 
sich ebenso davon abhängig, daß er Arbeiter findet, die sich in seine Dienste begeben, 
wie der besitzlose Arbeiter davon abhängig ist, daß er jemand findet, der ihn gegen 
Lohn beschäftigt; aber in diesem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis hat der Unter 
nehmer im allgemeinen unstreitig die stärkere Position. Im privaten Landelsverkehr 
ist stets derjenige im Vorteil, der mit dem Angebot zurückhalten kann, während sich 
auf seine Ware eine dringende Nachfrage richtet. Wer gar das Monopol der Ler- 
stellung oder des Vertriebes eines für andere unentbehrlichen Bedarfsartikels besitzt, 
der ist zwar immer noch davon abhängig, daß diese anderen ihm die Dinge zur Ver 
fügung stellen, deren er selbst benötigt, aber seine Machtstellung ist eine solche, daß er 
die Bedingungen des Austausches förmlich diktieren kann. 
Genau ebenso liegt es in Ansehung des Verhältnisses zwischen den einzelnen der 
am Weltverkehr beteiligten Volkswirtschaften. Ein wenig kapitalkräftiges oder ver 
schuldetes Land, dessen Produzenten und Kaufleute gezwungen sind, ihre Waren so 
rasch wie möglich loszuschlagen, ist stets im Nachteil gegenüber Ländern, die infolge 
der Kapitalkraft ihrer Produzenten und Ländler mit ihrem Angebot zurückhalten und 
auf eine günstige Absatzgelegenheit warten können. Ein Land, das für wichtige Welt-
	        
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