Der zweite Nationalrat lebte seine Tage nicht zu
nde, da er seine vorzeitige Auflösung beschloß.
Am I. April 10927 war die letzte, die 187. Sitzung.
Am 24. April ging die Neuwahl vor sich.
Nationalrat, Ill. Gesetzgebungsperiode.
(Seit 18. Mai 1027.)
Der Wahlkampf war mit großer Leidenschaft ge-
führt worden. Es erhielt die Einheitsliste 85 Abgeord-
netensitze, und zwar die Christlichsoziale Partei 73,
die Großdeutsche Volkspartei 12; die Sozialdemokra-
tische . Partei erhielt 71, der Landbund Oo Sitze,
13 Mandate davon waren erst im zweiten Ermittlungs-
verfahren zugeteilt worden. Unter den Gewählten
befanden sich 6 Frauen. Das politische System der
Regierungskoalition, das durch das Wahlbündnis be-
stätigt und neu gekräftigt war, wurde auf breiteste
Grundlage gestellt dadurch, daß jetzt auch der Land-
bund in der Regierung einen Vertreter erhielt. Prä-
sident wurde wieder Miklas, zweiter und dritter
Präsident Eldersch und Waber.
Infolge der Kürze der Zeit hat der dritte National-
rat erst eine bescheidene Zahl von Gesetzen erledigen
können, und zwar hat er sich besonders in Wirt-
schaftsfragen als Gesetzgeber betätigt. Außer einigen
Handelsabkommen und einem internationalen Über-
einkommen über den Fisenbahnverkehr wurden drei
Zolltarifnovellen angenommen, die der österreichischen
Produktion erhöhten Schutz angedeihen lassen. Für
die Landwirtschaft wurden ein neuerliches Gesetz
zur Bekämpfung des Kartoffelkrebses und Gesetze
über die Beendigung der Wi iederbesiedlung und
Luftkeuschenablösung beschlossen. Die Flektrizi-
tätswirtschaft zu fördern und sonstige Investitionen
zu. erleichtern, wurden neuerdings Steuer- und Ge-
bührenbegünstigungen genehmigt. Das Handelsgesetz,
das Patent- und das Markenschutzgesetz, die Ge-
werbeordnung und das Goldbilanzengesetz wurden
novelliert, endlich eine umfassende Eisenbahnverkehrs-
ordnung angenommen.
Auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge be-
schloß der Nationalrat unter anderem zwei Novellen
zum Angestelltenversicherungsgesetz und einige No-
vellen. die die Kinderarbeit beschränken. Besonders
hervorgehoben aber sei das bedeutsame und umfang-
reiche Gesetz über die Versicherung der Landarbeiter.
Für alte arbeitslose Hausgehilfen wurde eine Alters-
fürsorge geschaffen, für jugendliche Rechtsbrecher eine
zweckmäßigere Behandlung eingeführt. Den Staats-
angestellten wurde eine. neuerliche Gehaltsregelung
zugebilligt. Verfassungsrechtlicher Natur sind einige
Aenderungen, die der Nationalrat am Geschäftsord-
ıungsgesetz vorgenommen hat. (Gesetz vom I. Februar
028, BGBl. Nr. 62.) Der geheime Charakter der
Verhandlungen des Hauptausschusses wird wesentlich
ängeschränkt und für eine Reihe in einem besonderen
Gesetz. aufgezählter Verhandlungsgegenstände die
Sffentliche Beratung zur Regel gemacht.
Trotz der Kürze der Zeit war es dem dritten Na-
:jonalrat schon vergönnt, auch an zwei bedeutsamen
zesetzgeberischen Aufgaben kultureller Art mitzu-
wirken. Die eine ist die teilweise: Neuordnung des
österreichischen Schulwesens, die durch die beiden viel
aımstrittenen Gesetze, das Mittelschul- und das Haupt-
schulgesetz, getroffen wurde. Die zweite ist die ein-
schneidende Reform des Strafrechtes, ein großes
Werk, das im engsten Finvernehmen mit dem
Deutschen Reiche geschaffen wird, eine Riesenarbeit,
lie schon weit vorgeschritten ist und, wie zu erwarten
steht, in nicht zu ferner Zeit zu einem glücklichen
Abschluß gebracht werden dürfte.
Aber auch die innere und äußere Politik im allge-
meinen hat der dritte Nationalrat einige Male zum
Gegenstande sehr beachtenswerter, freilich bisweilen
auch bewegter Debatten gemacht, unter denen einer-
seits jene über die Katastrophe des 15. Juli 1027,
ındrerseits die große einmütige Kundgebung in der
Südtiroler Frage (Februar 1928) an erster Stelle zu
aennen sind. Und als im Oktober 1928 die inner-
oolitischen Spannungen wieder einen gewissen Höhe-
punkt erreicht hatten, entsprangen einer Initiative des
Parlamentes die Verhandlungen, die die Regierung
mit den: parlamentarischen Parteien einleitete, um die
innere Abrüstung in die Wege zu leiten.
So steht am Ende des von reicher friedlicher Auf-
bauarbeit erfüllten, aber auch von Kampf und Streit
aicht verschonten ersten Jahrzehnts österreichischer
Parlamentsherrschaft der von allen Parteien bekundete
ernste Wille zum Frieden, ein glückverheißendes
Omen für die Zukunft unserer Republik.