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schimpfen darüber. Oft warten sie die Predigt nicht ab, sondern
verlassen schon vorher die Kirche. Das Kirchengehen ist hier
weiter nichts als eine alteingewurzelte Tradition. . Dann ist
der Charakter des Gebirgsbewohners ein anderer als der des
Bewohners der Ebene. Das vereinzelte Wohnen auf den Berges
abhängen bis auf die Höhe des Eulengebirgskammes (800—1000
Meter) trägt viel dazu bei, einen gewissen Hang zur Mystik auf
recht zu erhalten.“
Der Marxismus ging den Weg des Christentums. Auch
das Christentum hatte den Ärmsten gepredigt: Duldet, duldet,
duldet .... dennoch ist euer der Sieg. Gott gibt ihn euch. Ge
nau so Marx, nur in anderm Jargon, Duldet, duldet, duldet . . .
dennoch ist euer der Sieg. Das dialektische Entwicklungsge
setz gibt ihn euch. So packte er die Proletarier wie sie waren
und nicht wie sie werden sollten.
Ihr werdet befreit werden. Aber von wem? Nicht durch
euch. Der Proletarier hatte sich noch nie als Macht gefühlt,
immer nur als Ohnmacht; wie hätte er plötzlich an seine Macht
glauben sollen! Befreit also von Gott? Nein. Der Proletarier
kannte auch Gott nicht als Macht. Wenigstens nicht deutlich.
Mochte er an ihn „glauben“, vertrauen konnte er ihm unmög
lich. Doch es gab zwei Mächte, die er täglich an sich verspürte.
Von denen er sah, daß sie ihn freudlos, sein Leben zwecklos
machten. Wirtschaft und Technik! Gröber gesagt: Profit und
Maschine. Das spürten sie ja zu Hunderten am Leibe, ;wenn
der Profit* die Konjunktur sie aufs Pflaster setzte oder (die
Löhne drückte, und was die Maschine bedeutete, hatten sie
immer gespürt So repräsentiert sich uns der gran
diose Plan dieses Evangeliums: an die Apathie wie proletarische
Freudlosigkeit, die notwendig mit sich brachten, knüpfte er un
mittelbar an. Er schmeichelt ihr, möchte man sagen, er pro
klamiert ihr Recht, und die beiden Gewalten, die als schuldig
an jener Freudlosigkeit und Zwecklosigkeit dem Proletarier allein
unmittelbar als Mächte fühlbar sind, denen allein er kolossales
Vollbringen Zutrauen kann, .... Profit und Maschine, sie be
traut er mit der Aufgabe der Erlösung.*
Merkwürdig, wie wenige der befragten Arbeiterkategorien
die Konsequenzen ihrer Entfremdung der Kirche gegenüber ge-
* Willy Hellpach, Nervenleben und Weltanschauung, Wiesbaden 1906.