Full text: Deutscher Industrie- und Handelstag

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nungen bedurften ihrer nicht im jetzigen Sinne. Die einzelnen 
Menschen hatten, ständisch gegliedert, ihre bestimmte Stelle im Ge— 
samtaufbau. Romantische Verklärung sieht heute manchmal lauteres 
Glück darin. Es war wohl erheblich anders. Aber richtig ist, daß 
die moderne Wirtschaftsordnung der freien Betätigung das Schicksal 
des einzelnen unsicherer macht. Sie gibt stärkere Möglichkeiten 
des Aufstiegs, sie erzeugt stärkere Gefahren des Versinkens; die be— 
sonderen Verhältnisse der Nachkriegszeit mit Inflation und Massen⸗ 
arbeitslosigkeit haben diese Gefahren außerordentlich vergrößert. 
Hier liegt die Aufgabe der Sozialpolitik, derjenigen, die nicht mehr 
in alter ständischer Ordnung und die nicht durch eigenes Ver— 
mögen, sei es des Besitzes, sei es besonders wertvoller Arbeitskraft 
gesichert sind, die vielmehr trotz Arbeitswillens sich nicht selber 
gegen Erwerbsunfähigkeit und Unvermögen zur Lebenserhaltung 
sichern können und konnten. Ob nun Invalidität, Alter, Krankheit, 
Ungunst des Arbeitsmarktes Ursache sind, ein Mindestmaß von 
Daseinsbedingungen zu gewähren. 
Diese Auffassung ist weithin Gemeingut der deutschen Unter— 
nehmerschaft; sie betont mit Recht gleichzeitig aufs stärkste, daß 
die Sozialpolitik als wirkliche Staats- und Volkspolitik nicht die 
Verantwortlichkeit des einzelnen für sich und die 
Seinen schwächen darf. Wir sind, auch wenn wir uns sorgfältig 
von Übertreibungen und Verallgemeinerungen fernhalten, wie sie 
bedauerlicherweise vorkamen, nach dem Zeugnis unparteiischer Be— 
obachter an mehreren Stellen der Sozialpolitik dieser Gefahr in 
sehr bedenklicher Weise erlegen. 
Nun wird eben jetzt eine Stimme aus sozialistisch-wissenschaft⸗ 
lichen Kreisen, von Professor Ed. Heimann?), laut, die die 
Sozialpolitik nicht als Ergänzung der individuellen Wirtschaft 
gelten läßt, sondern in ihr ein bereits wirssames Mittel zur 
inneren Auflösung der kapitalistischen Wirt— 
schaftsordnung und zur evolutionistischen Ent— 
wicklung des Sozialismus sieht, ähnlich vielleicht wie 
Naphtali in der Weiterführung der Demokratie den Weg zum Sozia— 
lismus sucht. Die Sozialpolitik ist für Heimann Abbau der Kapital— 
herrschaft zugunsten der Beherrschten. Das ist freilich nicht mehr 
ganz Marx. Denn der echte Marxismus lehnte die Sozialpolitik 
*) Eduard Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus, Theorie der 
Sozialpolitik. 1929.
	        
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