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VII. Kap.: Selbfthilfe
Wo die Verhältniffe befonders günftig lagen, haben fich fchon früh auch
in der Hausinduftrie Gewerkfchaften oder ähnliche Organifationen gebildet,
wie in Solingen und in der niederrheinifchen Seidenbandweberei. Im letzten Jahr-
zehnt haben fich aber auch dort, wo die gewöhnlichen Organifationsfchwierig-
keiten der Heimarbeiter obwalteten, lebensfähige und erfolgreich wirkende
gewerkfchaftliche Gebilde entwickelt.
Die erfte Stelle unter ihnen gebührt dem chriftlichen Gewerkverein
der Heimarbeiterinnen Deutfchlands, der im Oktober 1900
zu Berlin gegründet wurde.
Die erfte Anregung dazu gab der verftorbene Adolf Stöcker, der den Damen
der Berliner Frauengruppe der „Kirchlich-Sozialen Konferenz“ den Rat gab,
ihr Organifationstalent einmal bei den verlaffenen Berliner Heimarbeiterinnen
zu verfuchen. Wie aus der Idee nun langfam eine Tat wurde, fchiidert uns eine
der Gründerinnen des Gewerkvereins in fehr anfchaulicher und lehrreicher
Weife: x )
„Eine Anzahl Damen erklärte fich bereit, Befuche bei Heimarbeiterinnen
zu übernehmen, und daraufhin wurde befchloffen, fich zunächft an die Ge-
meindefchweftern, Stadtmiffionare und befreundete Lehrerinnen mit der Bitte
um Adreffen zu wenden.
Von Anfang an waren wir uns darüber klar, dafz es nicht unfere Auf
gabe fein könnte, die Familien, die wir kennen lernen würden, zu unter-
ftützen. Selbft wenn wir die Mittel gehabt hätten, wir würden fie nicht auf
diefe Art verwandt haben. Mußten wir uns doch fagen, dafz jede Unterftützung
nur eine vorübergehende Hilfe ift, die immer nur einzelnen zugute kommen
kann, und es fehr fchwer ift, diefe einzelnen ganz gerecht zu beurteilen. Aber
wie anders helfen?
Den Weg habe ich fchon vorhin angedeutet, als ich ausführte, dafz dir
Lohnaufbefferungen der Arbeiterinnen mit durch ihre Verftändnislofigkeit
für die Organifation verloren gegangen waren. Alfo — Erziehung für die
nachhaltige Wahrnehmung der Berufsintereffen war unfere Aufgabe; Or
ganifation hiefz das Lofungswort für unfere Arbeit! Wohl gab es manche der
hilfsbereiten Damen, die bei dem Worte „Organifation“ erfchraken, denn
wenn von diefer die Rede war, wurde man doch zu deutlich an die Sozialdemo
kratie erinnert. Aber gottlob, wir lernten, da(z wir nur dann ein Recht hatten,
unfere Mitfchweftern vor diefer zu warnen, wenn wir als Chriften bereit waren,
*) Therefe de 1 a C r o i x, in einem Vortrage, gehalten in Rheydt im Februar
1904- — Diefe verdiente Mitbegründerin des Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen
arbeitete die letzten neun Jahre ihres Lebens unermüdlich und höchft fegensreich
im Dienfte des Gewerkvereins. Sie ftarb unerwartet früh am 28. Mai 1909.