Full text: Wissenschaftlicher Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus und Bolschewismus

andererseits nicht die geringste Gemeinschaft miteinander besitzen. Unbrauch 
bar und nur verwirrend ist daher die Erläuterung, mit der Werner Sombart 
sein sonst ausgezeichnetes und viel geistige Anregungen bietendes volkstüm 
liches Werk „Sozialismus und soziale Bewegung" beginnt. „Sozialismus ist 
der geistige Niederschlag der modernen sözialen Bewegung." (S. 1.) Damit 
ist der Vegrisfsrahmen viel zu weit gespannt. Wir müssen eben alle Be 
griffsbestimmungen vermeiden, die so allgemein gehalten sind, daß wir zu 
keinen klaren Vorstellungen gelangen können. Das abschreckendste Schul 
beispiel hierfür bildet wohl entschieden, die Antwort des berühmten fran 
zösischen Anarchisten Proudhon auf die an ihn gerichtete Frage, wer denn 
eigentlich Sozialist sei. „Jeder, der nach der Verbesserung der gesellschaft 
lichen Zustände strebt." In diesem Sinne wäre wohl die weitaus über 
wiegende Mehrheit der ganzen Menschheit seit jeher Sozialisten gewesen. 
Für ganz abwegig müssen wir es auch mit Karl Diehl „Ueber Sozialismus, 
Kommunismus und Anarchismus" (2. Auflage 1611) erklären, mit „So 
zialismus" alle diejenigen Richtungen zu bezeichnen, welche eine bestimmte 
ethische Grundnorm in der Gesellschaftsordnung zur Durchführung bringen 
wollen, z. B. das Eemeinschaftsideal, die Menschheitswürde, den Wert der 
Einzelpersönlichkeit. So will z. B. der jüngst verstorbene berühmte Mar- 
burger Neukantianer Hermann Cohen in seiner tiefgründigen „Ethik des 
reinen Willens" (2. Auflage 1910) unter Berufung auf Kants berühmtes 
Sittengesetz: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als 
in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß 
als Mittel gebrauchst", Kant zum Sozialisten abstempeln. Er tut dieses mit 
der Begründung: „In diesen Worten ist der tiefste und mächtigste Sinn des 
kategorischen Imperativs ausgesprochen, sie enthalten das sittliche Pro 
gramm der neuen Zeit und aller Zukunft der Weltgeschichte ... die Idee 
des Zweckvorzuges der Menschheit wird dadurch zur Idee des Sozialismus, 
daß jeder Mensch als Endzweck, als Selbstzweck definiert wird." (S. 320.) Eine 
größere Verwirrung ist kaum denkbar, Kant und Marx, kantische Ethik und 
wissenschaftlicher, d. h. marxistischer Sozialismus sind die denkbar schärfsten kon 
trären Gegensätze: Kants Sittengesetz und Ethik überhaupt wendet sich an 
das Innere des Menschen, an sein Gewissen, mit der äußeren Regelung 
des menschlichen Eemeinlebens hat sie nicht das geringste zu schaffen. Der 
wissenschaftliche Sozialismus, will sagen: der Marxismus, betrifft die 
äußere Regelung des menschlichen Zusammenlebens, an die Wirtschafts-, 
Staats- und Gesellschaftsordnung wendet er sich. Eine ganz bestimmte Rege 
lung unter ganz bestimmter Form hält er für — naturnotwendig — erforder 
lich, „das kantische Sittengesetz dagegen kann ... in allen möglichen Gesell 
schaftsformen, individualistischen wie sozialistischen befolgt werden." (Diehl 
a. a. O. S. 5.) 
II. 
Mit den im ersten Abschnitt gemachten Feststellungen sind wir der Be 
griffsbestimmung des „Sozialismus" näher gekommen. Wir müssen als ent 
scheidendes Merkmal die realen Ziele ins Auge fassen, welche der Sozialis 
mus verfolgt. Seit Plato und Aristoteles beschäftigen sich alle staatswissen 
schaftlichen Schriftsteller mit der einen Grund- und Kernfrage, welche Form 
des menschlichen Gemeinschaftslebens die beste und zweckmäßigste sei. Die
	        
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