144 I. Buch B III: K. Oldenberg, Wirtschaft, Bedarf u. Konsum. § 7
ders in den Städten und Industriegebieten 4 ). Zugleich hat sich aber in diesen letzten
Menschenaltern die Nahrung des Städters noch in anderen Richtungen charakte
ristisch verändert. Er verzehrt nach dem Kalorienwerte viel weniger, aber teurere
Kost. Fett und Eiweiß, am liebsten von tierischer FIerkunft, drängen die voluminösen
Kohlehydratnahrungsmittel aus ihrer früher beherrschenden Stellung. Nur die
konzentrierteste Form der Kohlehydrate, der sehr verbilligte Zucker, gewinnt an
Beliebtheit; die dem Landmann auch in großen Mengen bekömmliche Brot- und
Kartoffelnahrung wird vielfach zur Zukost degradiert; dem auf dem Lande herge
brachten dunkeln Roggenbrot zieht der Städter instinktiv das Graubrot und Weiß
brot vor, dem kleiehaltigen Mehl das stark gebeutelte und „totgemahlene“ Mehl,
den groben Graupen- und Griessorten die feineren; er vertauscht die groben Hülsen
früchte 2 ) und Rüben mit wenig nährkräftigen grünen Gemüsen und Obst, die Milch
mit ihren konzentrierten Fabrikaten Butter und Käse, und zieht dem fetten Fleisch
das magere 3 ) vor; er steigert den Verbrauch scharfer Reizmittel des Appetits, der
Verdauung und des Nervensystems überhaupt.
2. Gewiß ist für diesen Kostwechsel die größere Kaufkraft des Städters eine not
wendige Voraussetzung. Aber schon 1890 bemerkte der hochverdiente badische
Fabrikinspektor W ö r i s h o f f e r 4 ), daß man der zur Zigarrenarbeit übergegangenen
bäuerlichen Bevölkerung ihre verfeinerte Kost nicht vorwerfen dürfe; sie habe diese
bei sitzender Lebensweise und geringer Muskelleistung nötig. Und der schweizerische
Fabrikinspektor Schüler hatte schon 1883 in einer noch heute lesenswerten
kleinen Schrift 5 ) betont, daß außer der sitzenden Lebensweise auch der Mangel an
frischer Luft und die oft hohe Temperatur der Arbeitsräume den Appetit des indu
striellen Arbeiters herabsetze und ihm die grobe Bauernkost ungenießbar mache, auch
vermehrten Genuß von Reizmitteln erfordere. Auch ein deutscher Fabrikinspektor
hat bemerkt, daß bei sitzender Lebensweise das grobe Brot schlecht vertragen wird 6 ).
Die billige vegetabilische Ernährung scheint danach in der Regel nur bei kräftiger
Freiluftarbeit möglich. Für den mittelrussischen Fabrikarbeiter soll sie nur darum
erträglich sein, weil er periodisch aufs Land zurückkehrt und eine bäuerliche Konsti
tution geerbt hat 7 ). Darum ist im Gefängnis vegetabilische Kost schwer durchführ-
x ) Die Verbrauchszunahme innerhalb der Städte erklärt sich zum Teil daraus, daß Mittel
städte zu Großstädten mit schärfer ausgeprägten städtischen Lebensbedingungen wurden;
die Verbrauchszunahme auf dem Lande zum Teil durch dessen Industrialisierung.
! ) R y b a r k in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1909, S. 433: der Konsum an
Hülsenfrüchten ist in Deutschland seit 1878 pro Kopf um mehr als die Hälfte zurückgegangen.
3 ) Und zwar mageres Fleisch von fett gemästeten Tieren; vgl. W y g o d z i n s k i in
Schmollers Jahrbuch 1906, S. 1074.
4 ) Die soziale Lage der Zigarrenarbeiter im Großherzogtum Baden, 1890, S. 1771, 215,
114, 128. „Wo die Einnahmen (der Zigarrenarbeiter) geringer sind, oder wo sie sich auf eine
zu große Zahl von Köpfen verteilen, wird die Lebensweise der kleinen Landwirte und Tag
löhner auf dem Lande beibehalten. Dieselbe ist aber einer stärkeren körperlichen Anstrengung
angepaßt und eignet sich nicht für die von früh bis spät sitzenden Zigarrenarbeiter. Damit
hängt es auch zusammen, daß dieselben meist nur geringen Appetit haben und die rauhe Kost
der Bauern nicht vertragen können, was ihnen von dieser Seite häufig als ein Zeichen über
mäßiger Ansprüche ausgelegt wird. Man kann es oft hören, daß die Zigarrenarbeiter den Appe
tit wieder verlieren, sobald sie sich nur an den Tisch setzen. Ebenso konstatieren viele Eltern,
deren Kinder die Fabriken besuchen, daß die Kinder trockenes Brot in den Zwischenzeiten
nicht vertrügen“ usw.
5 ) Ueber die Ernährung der Fabrikbevölkerung, S. 11 f.
•) Vgl. Lotz, Zolltarif, Sozialpolitik, Weltpolitik (1902), S. 50, Anm. 1: „Nach Aus
künften, die mir von einem erfahrenen Fabrikinspektor gegeben wurden, ist übrigens in Süd
deutschland das Verlangen der Fabrikarbeiter nach einem andern als dem groben schwarzen
Landbrot nicht etwa Modesache, sondern auf Erfahrungen bezüglich Verdaulichkeit bei sitzen
der Lebensweise zurückzuführen, so daß der Industriestaat auch veränderte Brotqualität
zu fordern scheint.“ Auch Schüler (S. 43) begründet es ähnlich, daß die ostschweizerische
Fabrikbevölkerung die feineren Brotsorten vorziehe.
7 ) v. Schulze-Gävernitz, Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland, 1899,
S. 154. Dazu paßt, daß nach Wangemann (Zeitschrift „Die chemische Industrie“, 1904,
S. 26 f.) der äußerst sparsame italienische Wanderarbeiter, der in österreichisch-ungarischen