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die Sozialwissenschaft aus dem „metaphischen“ Zustande befreien,
sie zu einer „positiven“ Wissenschaft entwickeln wollte:
Die Gesellschafts-Wissenschaft wird in fortschreitender Entwicklung die
selben Phasen durchlaufen wie die Astronomie, die Physik, die Chemie und
ganz allgemein alle Wissenschaften, die auf der Beobachtung von Tatsachen be
ruhen. Früher hatte in den Wissenschaften die Beschreibung uud Klassi
fikation von Tatsachen wenig Raum. Sie waren irgendeiner aprioristischen
Idee untergeordnet, die auf bedeutsamen, aber unvollkommen beobachteten
Tatsachen beruhte. In der zweiten Periode, die ebenso fruchbar ist wie die
erste steril war, wird die entgegengesetzte Methode befolgt; man hat sich
schrittweise den vorgefaßten Meinungen entzogen, soweit es die Schwäche des
Menschengeistes zuläßt. Man hat das aufmerksame Studium der Erscheinungen
zur Grundlage ihrer Bewertung gemacht und hält diese Erscheinungen nur
insoweit für genügend bekannt, als man ihr Gewicht, ihr Maß, ihr genaues
Bild geben kann; daraus allein glaubt man die Theorie darstellen zu können.
Unter der Herrschaft dieser Methode erschöpfen sich nicht mehr die wert
vollsten Kräfte, die das Streben nach Wahrheit sich zum Ziele setzen, in end
losen Diskussionen. Die wissenschaftlichen Streitfragen, die früher auf ent
gegengesetzten Behauptungen beruhten, werden jetzt durch immer zuver
lässigere Beobachtungen entschieden. — Die Sozialwissenschaft hingegen ist
in dem Zustande des Unvermögens geblieben, der die erste Periode der Natur
wissenschaften charakterisiert. Sie setzt sich aus Systemen zusammen, die
ihre Entstehung der wechselseitigen Opposition ihrer Urheber verdanken; man
kann daher in Wahrheit sagen, daß diese Wissenschaft von ihren eigenen
Angehörigen am stärksten bekämpft wird. Die Debatten über die Organisation
der Arbeit, des Eigentums, des Tausches sind fast ebenso heftig, wie es
während der letzten Jahrhunderte die über die Veränderung der Metalle, die
Universalmedizin, das Phlogiston waren; sie werden, ebenso wie diese klassi
schen Kontroversen, unweigerlich erlöschen unter dem Einfluß der gleichen
Methode. —
Aktuelle Bedeutung der Methode Le Play’s. Die Frage, ob
und wie es möglich ist, die Sozialwissenschaft „naturwissenschaft
lich“ zu begründen, ist neuerdings durch Ehrenberg, der auf den
Fundamenten T h ü n e n’s weiterbaut, wieder aktuell geworden. Ehren
berg hat dabei den bisherigen Zustand der Sozialwissenschaft ganz
ähnlich kritisiert*), wie Le Play es früher schon getan hatte.
Unter solchen Umständen ist es im jetzigen Augenblicke be
sonders wichtig, die wissenschaftliche Methode Le Play’s genau
kennen zu lernen, insbesondere auch, wie aus dieser Methode, die
in seinem ersten Werke „Les ouvriers europeens“ enthalten ist, sich
sein zweites Werk „La reforme sociale“ entwickelt hat; es ist doch
auffallend, daß ein Mann, der die Notwendigkeit so klar erkannte,
*) Thünen-Archiv, Bd. I, S. 1 ff.