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wollten. Der Onkel Le Play’s war eine neutrale Persönlichkeit, die
die politischen Interessen den wirtschaftlichen unterordnete. Da
durch hatte er sich auch in den mannigfachen politischen Krisen
sein Vermögen bewahrt. Aber er war eine wahrheitsliebende Natur,
die die Schwächen der alten wie der neuen Aristokratie mit gleicher
Schärfe kritisierte. Über die beiden anderen Lehrer lassen wir Le
Play selbst urteilen:
„Der Gelehrte“, ein ehemaliger Beamter, war begeistert für die wissen
schaftliche Bildung und hatte sich in Frankreich wie im Auslande dem Unter
richt gewidmet. Er trug mehr als jeder andere durch sein Vorlesetalent zum
Reiz unserer Abende bei und er leitete mich mit seltener Geduld in meiner
eigenen Lektüre. Im Grunde seines Herzens neigte er zu Rousseau, den
Enzyklopädisten und den Girondisten; in dieser Hinsicht wurde er an unseren
Abenden lebhaft bekämpft. Das war besonders die Aufgabe des dritten
Lehrers, des „Gentleman“; er ließ es sich namentlich angelegen sein, den
beherrschenden Einfluß nachzuweisen, den die Religion auf das
individuelle Glück wie auf die allgemeine Wohlfahrt ausübt. Als er, um dem
Schafott zu entrinnen, aus Frankreich fliehen mußte und seiner Güter beraubt
wurde, wollte er zunächst die Emigranten jenseits des Rheins vereinigen;
aber er sah bald ein, daß ihre Sache verloren war. So blieb ihm bis zu seiner
Rückkehr nach Frankreich nichts anderes übrig, als sich in Deutschland dem
Unterricht und dem Studium zu widmen. Er sah in der Korruption der
herrschendeu Klassen des ancien regime die Hauptursache der
Revolution. Er hatte das bedauerliche Schauspiel der Gottlosigkeit und
Verderbnis mitangesehen, das die Sitten der Emigranten in Koblenz, Köln
und in den Residenzstädten darboten, welche die Gastfreundschaft der deutschen
Fürsten ihnen angewiesen hatte: er erklärte, daß diese Mißstände in den Augen
der Deutschen nach und nach zur Verteidigung oder wenigstens zur Ent
schuldigung der Revolution geworden waren. Solche Lehren kehrten in leb
haften und geistreichen Worten bei Gelegenheit der täglichen Ereignisse be
ständig wieder; sie gaben meinem Geiste die ersten Begriffe eines moralischen
und wissenschaftlichen Unterrichts, den mir die Schule nicht geben konnte.
Der Zufall hat Le Play insofern begünstigt, als er ihm schon von
den ersten Kindheitsjaliren an eine so allseitige Erziehung gab, wie
sie nicht jedem Knaben geboten wird. Die Verschiedenheit des
Aufenthaltsortes und der Anschauungen, die seine Lehrer ihm vor
trugen, schärften seinen Geist früh, so daß er nicht in einseitiger
Weise auf bestimmte Anschauungen festgelegt wurde, sondern er
kannte, daß die politischen und sozialen Vorgänge sich in den ver
schiedenen Köpfen ganz verschieden spiegeln. Absichtliche Täu
schungen konnten nicht die Ursache dieser Meinungsverschieden
heiten sein; denn seine Lehrer waren vorzügliche, hartgeprüfte
Männer, die dem Knaben nur ihr Bestes geben wollten, um so die