1. Bis zum Beginn des großen Krieges.
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An zahlreichen Maßstäben kann man noch heute das Tempo und
den Umfang dieses wirtschaftlichen Aufschwunges feststellen. Allein
innerhalb der drei Jahre von 1871—73 nahm die Einwohnerschaft
Berlins um 114000 Köpfe, d. h. [um fast den sechsten Teil der Be
völkerung zu. Es entstand eine große Wohnungsnot, welche eine
riesige Steigerung der Mietpreise im Gefolge hatte. Eine wesentliche
Ursache dieser gewaltigen, allenthalben einsetzenden Preissteigerung
hing auch mit der großen französischen Kriegsentschädigung und
der so wenig zweckmäßigen Art ihrer Verwendung zusammen. Frank
reich hatte 4,2 Milliarden Mark an Deutschland zu zahlen gehabt.
Ein sehr großer Teil dieses Betrages wurde dazu verwandt, damit
Staatsanleihen zu tilgen. Es hatte dies die Wirkung, daß damit große,
bisher in solchen Wertpapieren angelegte Kapitalbeträge frei wurden
und nun vor allem Anlage in Dividendenpapieren, deren Kurs
steigerung dadurch sehr begünstigt wurde, suchten. Damit war aber
auch den nun in so großem Maße einsetzenden Neugründungen Tür
und Tor geöffnet. Gleichzeitig kam noch hinzu, daß die Menge der
Umlaufsmittel infolge einer unzweckmäßigen Geldpolitik der dafür
maßgebenden Instanzen sehr stark stieg, was aus bekannten Gründen
über den Umweg einer Geldentwertung zu einer weiteren Steigerung
der Preise und der Kurse der Dividendenpapiere beitrug.
Neben zahlreichen anderen Gründen, die das Aufkommen einer
Hochkonjunktur begünstigten, spielte damals noch das im Jahre 1870
in Kraft getretene Aktiengesetz dabei eine wichtige Rolle. Es ließ
nämlich den Gründern neuer Gesellschaften fast völlig freie Hand
und hat ganz wesentlich dazu beigetragen, daß in diesen Jahren zahl
reiche schwindelhaft© Unternehmungen ins Leben gerufen werden
konnten. Von Mitte des Jahres 1870 bis Mitte des Jahres 1873 wurden
in Deutschland 958 Aktiengesellschaften mit einem Kapital von 3600
Millionen Mark gegründet. Allein im Jahre 1872 wurden an der
Berliner Börse die Aktien von 63 Banken eingeführt und in dem
gleichen Jahre in das Berliner Handelsregister 144 neue Gesellschaften
mit einem Kapital von 363 Millionen Mark eingetragen. Jm folgen
den Jahre kamen noch 72 weitere Gesellschaften hinzu. Von vielen
Seiten erfolgten nachdrückliche Warnungen vor dieser Gründungs
wut. Schon Ende Oktober 1871 schrieb die Frankfurter Zeitung:
„Wir stehen inmitten, wenn nicht gar erst im Anfänge einer Periode,
in der die Leichtgläubigkeit sich wieder einmal Luftschlösser auf
baut, die bei mangelndem Fundament bei dem ersten Windstoß zu
sammenbrechen müssen.“ t
Diese Voraussage sollte sich nur allzubald bewahrheiten. Nach
dem sich schon vorher in Form einer Anspannung auf dem Geld- und