85 und 86. Flugblatt an die Beamten
Neichstagswähler des
5. Berliner Wahlkreises!
Beamte!
Die ReichstagSlvahl steht vor der Tür!
Mit den verlogensten Mitteln versucht man
seitens der bürgerlichen Parteien die Wähler ein
zufangen. Insbesondere sind es die „kleinen
Beamten", gegen welche echte Bauernfänger-
stückchen verübt werden. Konservative und Frei
sinnige fliehen jetzt über von Beamtenfürsorge.
Auch die Regierung gesellt sich diesem Bunde zu,
indem sie die Nachricht verbreitet, sie hätte beab
sichtigt, die Gehälter für eine Reihe von Beantten
auszubessern. Dies aber ist nichts als eine dreiste
Wahllüge, ein Wahlmanöver der aller-
pliimpcsten Art, denn in deni dem Reichstag
noch vor seiner Auslösung überreichten Etat
für 1807 ist von keiner Gehaltsaufbesserung
größeren Stils die Rede. Die vorgesehenen
Aufbesserungen beziehen sich lediglich auf
höhere Beamte.
Aus ihre Beamteufreundlichkeit besann
sich die Regierung erst jetzt, kurz vor der
Wahl, um die Beamten für die Freisinnigen
oder Konservativen zu kapern, welche bisher
noch in keinem Falle für diese eingetreten sind.
Einzig die sozialdemokratische Reichstagssraktion
beschäftigte sich eingehend und nachdrücklich mit
den Gehalts- und Acbeitsvcrhältnissen der Post
beamten rc. rc. Alljährlich sind bei der Etats
beratung die Mihstände in der Poswerwaltung
rückhaltlos besprochen.
Die grohe Zahl der Postproletarier, die bei
schwerer Arbeit, langer Arbeitszeit und
kargem Lohn im Dienste des Staates die
Millioncnübcrschüssc jährlich, vom frühen
Morgen bis in die sinkende Nacht erarbeiten
müssen, haben einzig bei den sozialdemokra
tischen Abgeordnete» eine energische Vertretung
ihrer Interessen gesunden. Die übermäßige
Arbeitszeit, die mangelnde Sonntags
ruhe, der für die Mehrzahl der Unter-
beamten fehlende Erholungsurlaub, die
kärgliche Entlohnung der nicht sest-
angestellten Unterbeamten, die unzu
reichende Gehaltssätze der etatsmäßig
Angestellten, die lange Wartezeit bis
zur Anstellung, die häufig schroffe Be
Handlung durch die Vorgesetzten, kurz
alle Klagen und Beschwerden der Unter
beamten wurden einzig von den Sozial
demokraten vertrete».
Sie waren es, auf deren Antrag im Jahre 1897
bet Bundesrat vom Reichstag aufgefordert wurde,
das AnsangSgehalt aller etatsmäßig angestellten
Poftunierbeamten wesentlich zu erhöhen, sowie eine
entsprechende Steigerung der GchaltSskala eintreten
zu lassen. Die Regierung ist dem nicht nach
gekommen, dagegen hat sie, einem andern Beschluß
der konservativ - klerikal nationalliberal - frei
sinnigen Reichstagsmajorität nachkommend,
vorgeschlagen, das Gehalt der Staatssekretäre
von 24 000 aus 36 000 Mk. zu erhöhen.
In dieser Mißachtung der Notlage
der Unterbeamten fand die Regierung, wie bei
allen ihren beamtcnfeindlichcn Bestrebungen,
die Unterstützung der bürgerlichen
Parteien, die davor warnten, die Beamten
noch „begehrlicher" zu machen und die Gehälter
als der „Lebensstellung und Geburt" der
Beamten entsprechend bezeichneten.
Der konservative Führer Gras Limburg
Stirum sprach-sogar von dem „groben Unfug",
den die Beamten mit ihren Petitionen treiben
und bezeichnete dies einzige Hülfsmittel der Be-
amten als „eine Art von Sport" und am
3. Mai 1900 erklärte der Minister von Thielen
im preußischen Landtag!
„ES ist soweit gekommen — mit
rühmlichen Ausnahmen —, daß die
einzelnen Beamtenkategorien es für
ihre Pflicht gegen Weib und Kind
und gegen sich selbst erachten, nur ia