76 2. Abschnitt. Grundlegung u. Ausbau der Sozial- u. Wirtschaftspolitik.
dem, was man Konkurrenzfreiheit nennt, besteht nur ein gradueller
Unterschied; beide sind nicht zwei gegensätzliche Bestimmungsgcünde, sondern zu-
sammen, nach einfachen mathematischen Gesetzen, notwendig, um für die Bestimmung
der Unbekannten der Wirtschaftspolitik ebenso viele Gleichungen zu ermöglichen.
Einzelmensch, so auch das Wirtschaftsleben in den zwei Tendenzen der organisierenden, zentrali
sierenden, unterordnenden Autorität auf der einen, und der freiheitlich individualistischen auf der
andern Seite, in dem (demokratischen) Gesetz der Gerechtigkeit und der gegenseitigen Rücksicht
nahme, des „Solidarismus", sowie der sozialen Organisation einerseits, dem individuellen
Wettbewerb und dem damit zusammenhängenden (aristokratischen) Prinzip des Konkurrenz- und
Daseinskampfes anderseits. Das ist das Rätsel des Wirtschaftslebens und zugleich das Rätsel
des Lebens überhaupt.
Wie die bisherige Konkurrenzfreiheit (mit der ihr wesentlichen Nichtbeschränkung der Selbst
sucht und Individualität) ihren Platz gegenüber der neueren Sozialethik (im Sinne der Rücksicht
auf das gesellschaftliche Allgemeininteresse) behaupten kann, das bildet in den letzten vier Jahr
zehnten einen Hauptpunkt der sozialen Frage. Seitdem drehen sich um diese Unterfrage, um die
Regelung des Wettbeiverbs durch ethische Gesichtspunkte die wirtschafts- und sozialpolitischen Kämpfe.
Für die Beantwortung bietet die Sozialphilosophie eine Analogie.
Seit längerer Zeit schwebt den Sozialphilosophen die künftige Ausgestaltung des Utilitaris-
mus zu einer Sozialethik vor. Schon Hobbes' Ethik hatte zum Ausgangspunkt, das wohlverstandene
Eigeninteresse müsse dazu führen, auf das Wohlergehen der Mitmenschen Rücksicht zu nehmen.
Diese Anschauung fiiibet heutzutage wieder mehr Anhänger, indem man sie dahin modifiziert:
Jeder Altruismus stellt zugleich ein Stück verfeinerten und veredelten Egoismus dar; beide
Prinzipien sind nicht zwei unvereinbare Gegensätze, von denen der eine bestimmt ist, den andern
ähnlich wie das böse Prinzip zu vernichten; vielmehr sind sie gleichberechtigt und zu einer
organischen Wechselbeziehung bestimmt, wodurch nach den Gesetzen der Korrelation eine höhere
Entwicklung der geistigen Eigenart herbeigeführt werden soll.
In gleicher Weise kann man von dem Antagonismus zwischen der egoistischen Kon
kurrenz und der Sozialethik annehmen, daß er dazu bestimmt ist, gemäß den Gesetzen der
Korrelation und der Gemeinwirtschaft neue Bahnen für die Weiterentwicklung des nationalen
Lebens zu ebnen. Beide Prinzipien sind die Attribute dieser oberen Einheit (und
gleichberechtigte Kulturfaktoren.
Die sozialphilosophische Wechselwirkung nun ließe sich auch auf das Wirtschaftsleben und auf
das Verhältnis des Prinzips der Konkurrenzfreiheit zu den neueren sozialethischen Forderungen
übertragen. — Das gleiche gilt von den heutigen Gegensätzen der Klasseninteressen innerhalb der
Gesellschaft; der ständige Konflikt zwischen den Konsumenten- und Produzenteninteressen, oder
zwischen den Kapitalisten- und Arbeiterinteressen, findet seine bestimmungsgemäße Lösung nicht
in der Anschauung, als ob etwa die gegnerischen Interessen sich von vornherein verneinen und
deshalb das eine durch das andere niedergerungen und ausgerottet werden müsse, sondern beide
sind Attribute einer oberen Einheit; das Ringen muß dazu dienen, daß die Interessen sich gegen
seitig durchdringen und sich damit in den Dienst der oberen Einheit, der Förderung des höheren
Fortschritts der Gesellschaft stellen. —
Wie mit den Gegensätzen auf dem Gebiete der Sozialethik, so verhält es sich auch mit
den Gegensätzen der sozialen Biologie.
Wie der Konkurrenzkampf unter den Produzenten als oberes Entwicklungsziel die wechsel
seitig nützliche Durchdringung und Unterordnung hat, ebenso verhält es sich mit den Prinzipien
der autoritären Organisation und des Individualismus. Man sieht sie gewöhnlich als un
vereinbare Gegensätze an, von denen der eine bestimmt ist, den anderen aufzuheben und zu
vernehmen und zu vernichten. Aber die Unterschiede sind, wie bei dem negativen und positiven
Pol der Elektrizität, nur graduell.