Full text: Die deutsche Hausindustrie

§ 5. Heimarbeit und Sittlichkeit 
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Proftituierten, welche vom 1. April 1894 bis 1. April 1895 neu eingefchrieben 
wurden, 232 Näherinnen befanden: eine nicht fehr große Zahl, die aber — 
wie der Bericht felber zuge|teht — keine Schlüffe geftattet, da einmal die 
Berufsangaben an und für fich unficher feien, und außerdem die Angaben 
fich nur auf die kontrollierte Proftitution beziehen, die bekanntlich nur einen 
geringen Teil der wirklichen ausmacht. 
Dr. A. Neher 1 ) fucht — zum erftenmal in der deutfehen Literatur — 
auch der geheimen Proftitution in einigen füddeutfehen Großftädten auf die 
Spur zu kommen und fie nach Alter, örtlicher und beruflicher Zugehörigkeit 
zu befchreiben. Als Grundlage dient ihm dabei die Anzahl der Strafverfahren 
gegen Frauensperfonen wegen gewerbsmäßiger Unzucht. Neher kommt für 
Stuttgart, wo ihm befonders ausgiebiges Material zur Verfügung ftand, zu dem 
Refultat, daß an der geheimen Proftitution abfolut die Kellnerinnen am ftärkften 
beteiligt find, an zweiter Stelle folgen die Dienftmädchen, dann die Fabrik 
arbeiterinnen und an vierter Stelle die Näherinnen, von denen in Stuttgart 
nach der letzten Berufsftatiftik von 1907 etwa 25 Prozent hausinduftriell tätig 
find. Setzt man jedoch die Anzahl der Strafverfahren in Beziehung zu der Zahl 
der erwerbstätigen weiblichen Perfonen in jeder Berufsgruppe überhaupt, 
fo erhält man die relative Beteiligung der verfchiedenen Berufsgruppen an der 
geheimen Proftitution. Auch da ftehen nun an erfter Stelle die Kellnerinnen, 
dann folgen die induftriell tätigen Arbeiterinnen (auf je 1000 erwerbstätige 
weibliphe Perfonen kommen in vier Jahren 43 Strafverfahren), erft dann 
kommen die im Handel Befchäftigten und die Dienftboten. Leider konnten 
bei diefem Reduktionsverfahren nach dem vorliegenden Material die Fabrik 
arbeiterinnen und Näherinnen, fpeziell die Heimarbeiterinnen, nicht aus- 
einandergehalten werden, fie find alle unter dem Begriff induftriell tätige 
Arbeiterinnen zufammengefaßt. Daß aber innerhalb diefer Gruppe auf die 
Näherinnen und unter diefen wieder auf die Heimarbeiterinnen ein ziemlich 
großer Prozentfatz entfällt, ergibt fich mit höchfter Wahrfcheinlichkeit. Die 
Löhne find für die Näherinnen fehr fchlecht (f. Neher S. .166 ff), nach Aus 
weis der Stuttgarter Ortskrankenkaffe bilden fie für die Hälfte ein zum Lebens 
unterhalt ungenügendes Einkommen, die verdienftlofe ftille Zeit droht ihnen 
Jahr für Jahr. In den niedrigften Lohnklaffen der Näherinnen aber find vor 
zugsweife Heimarbeiterinnen; von jenen, die weniger als 36 M. im Monat ver 
dienen, waren zwei Drittel Heimarbeiterinnen. Nun ift es ziemlich ficher 
— und Neher hat es aufs neue nachgewiefen, daß in erfter Linie wirtfehaft- 
*) A. Neher, Die geheime und öffentliche Proftitution in Stuttgart, Karlsruhe 
und München, Paderborn 1912.
	        
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