§ 1. Gewerk vereine
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womöglich durch Preisunterbietungen dem Arbeitsgenoffen die Arbeit und
die beften Löhne abzujagen, bleibt den Heimarbeitern die Solidarität ein un-
verftändlich Ding und bleiben fie für die fegensreichen Folgen eines Zufammen-
fchluffes völlig geblendet. Die regellofe, weil ganz unkontrollierte Arbeits
zeit der hausinduftriellen, das Sichfelbftüberlaffenfein während des ganzen
Herftellungsprozeffes macht ferner die meiften von ihnen untauglich wie
zur Fabrik, fo auch zu der ein gewiffes Innehalten von Ordnung fordernden
Organifation.
Am allerwenigften zugänglich für Organifation s-
gedanken dürften die ländlichen Heimarbeiter und die grofze
Maffe derweiblichenArbeiterfchaft fein. Jenen fpiegelt das eigne
Heim, das Stückchen Acker- und Gartenland eine geficherte wirtschaftliche
Unterlage, einen feften Rückhalt vor, der das Verlangen nach höhern Löhnen
und nach einer Organifation nicht leicht aufkommen läfzt. Sie fühlen fich
auch häufig weniger als gewerbliche Arbeiter denn als Landbauern, zumal
wenn fie während der Sommermonate vorwiegend ländlichen Arbeiten nach
gehen, und werden nicht fo leicht ein Standesbewujztfein als Arbeiter be-
fitzen.
Die Frau aber folgt einem tiefinnern natürlichen Drange, wenn fie
mehr zu häuslichen Arbeiten, zur Sorge für Gatte und Kind neigt, als
zur aktiven Teilnahme an Organifationsbeftrebungen, zum Kampfe im
öffentlichen Leben, den fie am liebften dem Manne überläfzt. Unver
heiratete Arbeiterinnen fehen zudem die Heimarbeit als einen Notbehelf,
als eine vorübergehende Befchäftigung an, die fie aufgeben werden, fobald
fie — wie fie glauben — an der Seite eines Mannes der Sorge für die täglichen
Lebensbedürfniffe enthoben find.
Alle diefe Umftände erfchweren erheblich die Organifation und bewirken
den paffiven Wider ftand, den die Heimarbeiter dahingehenden Vorfchlägen
entgegenfetzen. Soviel darf wohl mit Sicherheit behauptet werden: die
heutigen Heimarbeiter ftehen in ihrer Gefamtheit
technifch, wirtfchaftlich und fozial zu tief, als da|z
fie aus eigner Kraft zu einer lebensfähigen, achtung.
gebietenden Organifation fich aufraffen könnten.
Die Hebung ihrer Gefamtlage, ihres technifehen und fozialen Könnens, wird
aber vornehmlich erft von einer Organifation erwartet. Es wäre daher falfch,
zu warten, bis die Heimarbeiter fich fo weit entwickelt haben, dafz fie zum
Organifieren die notwendige Kraft gefunden hätten. Aus ihrer Mitte wird ohne
fremde Hilfe wohl fchwerlich ein Gewerkverein hervorgehen.