Allgemeines und Spezielles über Entwicklung und Stand der Wohlfahrtspflege. 41
Der Großeinkauf von Lebensmitteln und deren Detailabgabe zum Selbstkosten
preise wird von den meisten großen Firmen ausgeübt. Die Württembergische Metall
warenfabrik hat 1912 den Verkauf von Seefischen organisiert und hierzu ein eigenes
1 y 2 stockiges Gebäude errichtet. Es werden Fischkochbücher abgegeben und Fischkoch
kurse erteilt. Der Absatz betrug in der Zeit vom 1. Februar bis 4. April 1912 217 Zentner
Seefische und 22 000 Stück Bücklinge.
Es verdient auch hervorgehoben zu werden, daß Großindustrielle ihre wissenschaft
lichen Kräfte geradezu mit Forschungen und Untersuchungen über die Ernährungsverhält
nisse der Arbeiter und deren Verbesserung beauftragen. So ist uns bekannt, daß der Senior
der Hofmühlenfirma Bienert, Dresden, Herr Geh. Kommerzienrat Theodor Bienert,
auf dem ihm gehörigen ehemaligen Stadtgute Räcknitz bei Dresden einen Musterstall
zur Gewinnung einwandfreier Milch eingerichtet hat. Die Resultate der hier statt
findenden wissenschaftlichen Untersuchungen sollen nach ihrem Abschluß der Allgemein
heit zugute kommen.
Auch die vielfach herrschende Sitte, den verheirateten Fabrikfrauen eine längere
Mittagspause für ordentliche Zubereitung des Mittagtisches in der Wohnung zu gewähren,
ist als eine hygienische Einrichtung zur Sicherung besserer Arbeiterernährung zu betrachten.
Zu den neueren Einrichtungen für Arbeiterernährung gehört die Fabrikkantine der
Tabak- und Zigarettenfabrik Yenidze in Dresden, die als eine Mustereinrichtung
ihrer Art zu betrachten ist. Gutes Mittagessen wird den 1700 Arbeitern und Arbeiterinnen
in den schönen Speisesälen der völlig aus Glas bestehenden 17 m hohen Kuppel des Fabrik
gebäudes gegen billigen Preis (25—30 Pf.) verabreicht. Mittels acht Fahrstühlen werden
Personen und Speisen heraufbefördert. Nach Einnahme der Mahlzeit ist — wie schon
erwähnt — in den Ruhehallen und ausgedehnten Dachgärten die für die Verdauung er
wünschte Siesta geboten. Neu ist auch, daß hier Trinkgeschirre auf den Arbeitsplätzen
nicht geduldet werden, daß dafür aber jeder Arbeiterin ein im Speisesaal an großen Tafeln
aufgehängter numerierter Porzellantopf zur Verfügung steht. Die Zubereitung von Speisen
und Getränken durch den Wirtschaftsverwalter erfolgt in reinen Nickelgefäßen von 50 bis
150 1 Inhalt. Nach Beendigung jeder Mahlzeit bzw. vor Wiederaufnahme der Arbeit sind
die Hände zu reinigen. Während der Mittagszeit sind auch die Badeanlagen geöffnet, deren
Benutzung kostenlos ist. Daß der Appetit und somit auch die Bekömmlichkeit erheblich
durch sauberes Aussehen der Tischgenossen gesteigert wird, ist eine allbekannte
Erfahrung. In diesem Sinne wirkt auch im Yenidze-Speisesaal der Umstand, daß seitens
der Firma eine saubere Einkleidung des gesamten weiblichen Fabrikpersonals, und
zwar in große buntfarbene Schürzen und cremefarbene Hauben erfolgt ist.
Die „Sarotti-Chokoladen- und Cacao-Industrie-A. G.“ hat in ihrer neuen Fabrik
anlage in Berlin-Tempelhof die Kantinensäle auf den Dächern angelegt, die von Dach
gärten umgeben sind.
Bei den Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. in Leverkusen wird für
die Ernährung der Beamten und Arbeiter auch besondere Sorge getragen. Zunächst kommt
hier das von der Firma errichtete große Kaufhaus in Wiesdorf in Betracht, insoweit es
sich um den Einkauf von Nahrungsmitteln handelt, die in dem Gesamtumsatz von
jährlich 800 000 M. einen erheblichen Teil ausmachen. Die Güte der Ware und die Sauber
keit des Verkehrs wird genau überwacht. Der Gewinn wird an die Mitglieder meist mit
jährlich 10% des Umsatzes verteilt. Die Arbeiterspeiseanstalten verteilten im Jahre
1911 28 519 Portionen zu 65 Pf. und 28 747 Portionen zu 40 Pf. Der Umsatz der für den
Handverkauf eingerichteten Erfrischungsräume war im Betriebsjahre 1911 45508 M.
Für beide Anstalten leistete die Firma 1911 einen Zuschuß von 23 627 M. Das Beamten
kasino erfüllt auch für alleinstehende oder besuchsweise sich in Leverkusen auf haltende
Beamte den Zweck einer guten und billigen Ernährung. Die Kasinogesellschaft zählte
am Schlüsse des Jahres 1911 152 Mitglieder.