land — wie auch die wissenschaftliche Forschung überhaupt — noch
sehr jung ist und sozusagen im Beginne ihrer Laufbahn steht. Erst
in den letzten Dezennien des neunzehnten und im zwanzigsten Jahr-
hundert entsteht in Rußland eine wirklich bedeutsame philosophische
Literatur (in dem hier gemeinten Sinne), die, mit allen Forschungs-
methoden und Ergebnissen des westeuropäischen- Denkens ausgerüstet,
gleichzeitig an tiefe Eigentümlichkeiten der nationalen Denkungsart
anknüpft und sowohl durch ihre Originalität wie durch die Wichtig-
keit ihrer Ergebnisse allgemeines Interesse wirklich beanspruchen darf.
Dies ist ein, wie man hoffen darf, vielversprechender Anfang,
aber doch nur ein Anfang, der bis jetzt im russischen Geistesleben
keine besonders große Rolle spielt und dessen Bedeutung nur in einem
viel weiteren geistigen Zusammenhange beurteilt werden kann. Würde
eben dieser geistige Zusammenhang fehlen, könnte man nicht noch in
einem ganz anderen Sinne von „russischer Philosophie“ sprechen, so
könnte man vielleicht überhaupt nicht von der „russischen Philoso-
phie“, sondern höchstens nur von den in Rußland erschienenen philo-
sophischen Werken reden. Hier muß man sich aber daran erinnern,
daß auch im westeuropäischen Denken und Geistesleben der Begriff
der Philosophie in einem weiteren Sinne gebraucht wird und not-
wendig gebraucht werden muß. Wenn unter Philosophie nur eine be-
stimmte Wissenschaft, ein gewisses, irgendwie abgegrenztes Gebiet
der wissenschaftlich - systematischen Forschung verstanden werden
müßte, dürfte dann noch ein Sokrates, vielleicht auch ein Plato über-
haupt als Philosoph gelten? Dürften dann zur deutschen Philosophie
die deutsche Mystik, Meister Eckehardt, Jakob Böhme, Baader, mit-
gerechnet werden? Dürfte der vielleicht einflußreichste deutsche
Denker der letzten Generation, Friedrich Nietzsche, noch Philosoph ge-
nannt werden? Die Philosophie ist ihrem Wesen nach eben nicht nur
Wissenschaft: vielleicht ist sie sogar nur in einem abgeleiteten Sinne
überhaupt Wissenschaft: primär, in ihrem wurzelhaften Wesen, ist
sie überwissenschaftliche intuitive Weltanschauungslehre, die mit der
religiösen Mystik in einer sehr engen — hier weiter nicht zu bestim-
menden — Verwandtschaftsbeziehung steht. Nimmt man aber die
Philosophie in dieser ihrer weiteren und zugleich tieferen Bedeutung,
so darf man mit Recht von einer russischen Philosophie sprechen, die
einerseits ein wirklich eigentümliches einheitliches Gepräge hat und
andererseits bedeutsam genug ist, um auch bei einem Westeuropäer
ein wirkliches inneres, nicht nur literar - historisches Interesse zu
wecken.
Es ist eben eine Eigentümlichkeit der russischen Denkungsart, daß
sie sozusagen von Hause aus intuitiv angelegt ist. Das nur Systema-
tische und Begriffliche im Erkennen erscheint ihr zwar nicht als Ne-
bensache, doch aber als etwas schematisches, das der vollen und leben-
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