8 1. Abschnitt. Wirtschaftliche Konzentration vor der politischen Einigung.
„Alle sprechen immer nur von ihren Interessen und sehen die übrigen Landsleute als
ihr ausschließliches nutzbares Eigentum an, das sich geduldig alle die Einrichtungen
gefallen lassen muß, die zum Vorteil jener Herren gereichen, und ständen sich ihre
Interessen nicht, wie eben gezeigt worden, zuweilen direkt entgegen, so daß einer den
andern bekämpft und neutralisiert, so möchte Gott uns gnädig sein. Bei der Ent
schiedenheit, mit welcher die verschiedenen Interessen geltend gemacht werden, muß
vor der Hand die Hoffnung aufgegeben werden, sür ganz Deutschland eine gemein
schaftliche, auf einem Prinzip beruhende Gewerbeordnung zu erlangen."
Das damalige Projekt der gewerberechtlichen Einigung teilte das Schicksal
der erträumten politischen. Die kleingewerblichen und kaufmännischen Zünfte
sollten noch einige Jahre das Recht behalten, andere vom Gewerbebetrieb auszu
schließen, und für eine größere Anzahl von Gewerben den Befähigungsnachweis zu
verlangen. Lauter und zahlreicher als hellte ertönten damals, wie schon seit den
20er und 30er Jahren, die Klagen und Hilferufe der Kleingewerbetreibeilden. Der
Kredit war teuer und konnte nur auf dem Wege privater Gefälligkeit gedeckt werden;
die Massenfabrikation riß in bedenklicher Weise vom Absatz Stück um Stück an sich;
der Bezug von Rohmaterialien stellte sich noch unverhältnismäßig hoch. Nur der
Staat schien Hilfe bringen zu können.
Die Ursache der Bedrängnisse lag in der Steigerung der Konsumentenallsprüche,
in dem Vordringen der Eisenbahnen, der Ausbreituilg der Maschinen, der Überlegellen
Organisation, feineren Spezialisierung und volleren Ausllützung der verschiedensten
Fähigkeiten in der Großunternehmung, den Kardinalfehlern der Handwerker in der
Kalkulation, der Lieferung, iln Eillkauf u. a. —
Dem raschell Wechsel der Konjunkturen bezlv. der Mode und namentlich den
Fortschritten der Technik vermochte der Kleingewerbetreibende nicht zu folgen, jeden
falls nicht im gleichen Maße wie der kapitalistische Unternehmer.
Gegen all das konnten die Zunstschrankell keinerlei Schutz gewährell. Trotzdem
dachte die Mehrzahl der Handwerker nur daran, sie noch weiter auszubauen.
Auch heute noch hängt ein großer Teil derselben am Prüfungszwang und
Befähigungsnachweis. Erklären läßt sich dies nur daraus, daß der kleine Mann
überhaupt nie aus der Geschichte lernt, daher jede Generatioll wieder die alten
Interessen- und Anschauungsverschiedenheiten auskämpferl muß.
Die Einführung der Gewerbefreiheit war jedoch mit Rücksicht auf die erwähnten
Verschiebungen, auf die hauptsächlich durch die Eisenbahnen eingetretene Erleichterung
und Erweiterung des Verkehrs im Interesse einer kräftigeil Weiterentivicklung ein
unabweisbares Bedürfnis geworden.
Im Jahre 1861 gab die württembergische Zeiltralstelle für Gewerbe und Haildel
ihr Gutachten dahin ab: Bei dem derzeitigen Stand von Handel und Gewerbe
könne man nicht ein abgeschlossenes, sondern lediglich ein der stetigen Weiterentwick
lung fähiges Gemerbeordnungssystem aufstellen. Fiir ein derartiges System bestünden
die Grundlagen:!
1. in Kräftigung des korporativen Verbandes der Gewerbe durch gemein
schaftliche Bezirksorgane *);
i) Als mit der um 1878 eingetretenen Schwenkung der Wirtschaftspolitik des Reiches die
Zunftbewegung wieder erstarkte, ergab es sich von selbst, ihr die beideir eben genannten Programm
punkte von 1861 entgegenzustellen. Es war nicht leicht, die verwaltnngs- und gesetzestechnische