Full text: Sozialismus und Regierung

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Wenden wir uns jetzt zur Gleichheit. Die herausfordernde Erklä 
rung, die Throne erschütterte und gesalbte Köpfe von ihren heiligen 
Nacken rollen ließ: daß „alle Menschen frei und gleich geboren sind“, 
hat für uns nur noch einen historischen Wert. Sie verfocht die Forde 
rungen einer vergangenen Zeit; sie bekräftigte die Revolte einer Gene 
ration, die über ihre Einrichtungen hinausgewachsen war, die aber 
heute ihre Schlachten gewonnen hat und zur Ruhe gegangen ist. In 
den organischen Beziehungen ist die Gleichheit nicht eine Gleichheit 
der Uniformität oder der Ähnlichkeit, keine Vermögensgleichheit, auch 
keine Gleichheit in der Geschicklichkeit, noch eine Gleichheit der Lei 
stungen und Dienste, die man erwartet. Sie wird nicht in der Formel 
ausgedrückt: „Ich bin dir gleich", sondern in dem Satze: „Auf die 
Entwicklung der Persönlichkeit habe ich dasselbe Recht wie du.“ 
Doch selbst dies muß auf eine Entwicklung beschränkt werden, deren 
Richtlinien mit der individuellen und sozialen Wohlfahrt vereinbar 
sind. Diese Worte hätten z. B. im Munde eines Menschen, der ver 
brecherische Anlagen zeigt, keine Gültigkeit. Niemand hat das Recht, 
ein Verbrecher zu werden. Wie ich gezeigt habe, besteht unter diesen 
Umständen das Recht eines solchen Menschen vielmehr darin, einem 
Zwange unterworfen zu werden, der ihn auf den Weg der Lauterkeit 
und des guten Staatsbürgertums führt. 
Da sich die Organisation der Gesellschaft immer mehr kompliziert, 
verblaßt außerdem auch der einfache und ursprüngliche Sinn des Be 
griffes der Gleichheit. Auf einer primitiven Stufe des Gesellschafts 
zustandes kann die Gleichheit eine Gleichheit der Funktionen, des Be 
sitzes und der Vergnügungen bedeuten: 
Als Adam grub und Eva spann, 
Wo war da der Edelmann? 
Aber in einer organisierten Gemeinschaft heißt Gleichheit das ge 
meinsame Schaffen gleichmäßig freier Menschen an dem Werke des 
sozialen Ganzen — nicht dasselbe Werk, nicht dieselbe Art oder Be 
deutung der Arbeit, nicht Arbeit, für die vielleicht der gleiche Lohn 
entrichtet wird, obgleich die Vergütung der wirtschaftlichen Freiheit 
aller adäquat sein muß —, wo niemand in seinem Dienste eine Er 
niedrigung empfindet und jeder weiß, daß dieser Dienst für ihn der 
geeignetste ist oder daß er ihn nach bestem Können verrichtet. Die
	        
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