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IV. Kap.: Wirtfchaftliche und foziale Zuftände in der Hausinduftrie
das unaufhörliche Arbeiten für die raffinierteren Luxusbedürfniffe macht fie
begehrlich und legt ihnen die Frage nach einem lohnenden Nebenerwerb nahe.
Da erfcheint ihnen als das Zunächftliegende die Proftitution, die fich in der
Grojzftadt mit flitterhaftem Glanz zu umgeben weifz und auf arme, aber
putzfüchtige und begehrliche Mädchen unwiderftehiiche Reize ausübt.
Ein gewiffer Drang nach Ungebundenheit macht fie derartigen Lockungen
gegenüber erft recht widerftandsunfähig. Es ift eine fehr beachtenswerte Tat
fache, dafz der größte Teil der (Berliner) alleinftehenden Heimarbeiterinnen
ehemalige Dienftmädchen find, die, obwohl |ie in letzterer Stellung eine wirt-
fchaftlich günftigere und ficherere Lage hatten, doch zur Konfektion über
gingen im Drang nach Selbftändigkeit und Ungebundenheit. Es ift nun aber
mehr als blojze Vermutung, da|z diefer verhängnisvolle Drang in fehr
vielen Fällen gU ich bedeutend ift mit dem „chercher l’homme“ oder doch dazu
führt.!)
Die ungenügende Wohnung mancher Heimarbeiterin gib( zu
dem einen Nährboden ab, auf dem Unfittlichkeit und Proftitution üppig
wuchern. 1 2 ) In den engen, dichtgefüllten Wohnungen der hausinduftriellen Fa
milien find meiftens die allerbefcheidenften Mindeftforderungen, die vom fitt-
lichen Gefichtspunkt aus bezüglich der Trennung von Schlafräumen bzw.
Lagerftätten zu ftellen wären, nicht erfüllt. Dasfelbe gilt in weit ftärkerm
Grade von dem Schlafftellen- und Aftermietenwefen, das, wie früher ausgeführt
wurde, gerade für die alleinftehenden Heimarbeiterinnen eine grofze Rolle fpielt.
Eine weitere fittliche Gefahr für die Schlafftelleninhaber fchildert E. Gnauck-
Kühne: „Die fchlimmfte Seite diefer Zuftände (des Schlafftellenwefens)
ift die Obdachlofigkeit der Schlafgänger (und Schlafgängerinnen) an Sonn-
und Feiertagen. Das junge Mädchen mu(z auf die Strajze. Gehen die Logis
wirte aus, fo fchliefzen fie ab; bleiben fie daheim, fo wollen fie im Platze nicht
befchränkt fein. Der Befitz eines eignen kleinen Raumes, und fei er noch fo
befcheiden, in dem die alleinftehende Arbeiterin zu Haufe ift, würde dagegen
eine fittlich bewahrende und erziehliche Wirkung üben.“ 3 )
Solche beklagenswerte Verhältniffe züchten gewiffermajzen die Profti
tution, und es kann nicht wundern, wenn diefe von ihrer eigentlichen Domäne,
der Grofzftadt, auch in ländliche und kleinftädtifche Bezirke fich verbreitet,
die durch ein ähnliches Heimarbeiterelend berüchtigt find wie die Gro|zftadt.
So berichtet 0. Stil lieh über Sonneberg: „Es ift hier ein öffentliches Ge
1 ) Vgl. R. Vermaut, L’industrie de la lingerie ä Bruxelles, Bruxelles 1908, 24.
2 ) Vgl. E. J a e g e r, Die Wohnungsfrage I 93—96, 100, 103; K. Oaebel
a. a. 0. 12 ff.
3 ) E. Gnauck - Kühne in Schmollers Jahrbuch, 20, 410.