Full text: Die deutsche Hausindustrie

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II. Kap.: Die Entftehung der Hausinduftrie 
§ 2. Die Entwicklung der Hausinduftrie als Neben- 
befchäftigung der grofzftädtifchen Bevölkerung 
Ein ganz analoger Prozefz, wie feit Jahrhunderten auf dem Lande, vollzog 
und vollzieht fich in der modernen Grofzftadt. Auch hier erwuchs viel Haus- 
induftrie auf dem fonft fo magern Boden der Arheitslofigkeit. Die Familien, die 
vom Lande in die Stadt zogen, die hohem wie die niedern, erfuhren alle an fich 
eine durchgreifende Veränderung. Auf dem Lande gab die Familie den meiften 
ihrer Glieder eine tägliche produzierende Befchäftigung, auch wenn nur ein 
Häuschen, ein Garten und ein paar Morgen Land das ganze Familiengut bildeten, 
in der Stadt gab die Familie eine produzierende Tätigkeit nach der andern an 
Fremde ab, ihr felbft blieb vorwiegend nur die Regelung des Konfums. Viel 
Arbeitszeit wurde für die Hausfrauen, die Töchter, die Kinder freigefetzt: alfo 
für Perfonen, die notgedrungen oder gerne im Haufe verblieben. Die erwerbende 
Arbeit im Haufe, die Heimarbeit, konnte ihnen nur willkommen fein: den Prole- 
tarierfamilien, weil fie fo der bitterften Not entgingen, den Beamtenfamilien, 
weil fie fo zu dem fchmalen Gehaltseinkommen etwas hinzuerwerben konnten. 
Hinfichtlich der alleinftehenden Perfonen verlief der Zug zur Stadt vielfach 
in folgender Weife:Anfangs, in den erften Entwicklungsftadien der Gro(z- 
ftadt, wanderten vorwiegend Männer hierher und fanden ausreichende und 
lohnende Befchäftigung. Bald aber drängten die Frauen nach, wie nicht anders 
zu erwarten war, und zwar in folcher Anzahl, dafz fie unmöglich alle im eignen 
Haushalt oder in häuslichen Dienften genügend Befchäftigung fanden. Zu 
dem wollten viele keine häuslichen Dienfte ais Dienftmädchen verrichten, 
was fie in der Stadt fuchten, war vor allen Dingen die Freiheit. Fabriken gab 
cs und gibt es im Innern der Grofzftädte weniger wegen der hohen Boden- und 
Mictpreife, und die vorhandenen Fabriken find vorwiegend für Männerarbeit 
eingerichtet. So fahen nun viele Frauen und Mädchen, die in der Grofzftadt 
reichen Verdienft erhofft hatten, fich bald in die äufzerfte Not verfetzt. Aus 
den hohen Mietkafernen ftreckten fich Taufende von Frauenhänden nach 
Arbeit aus. Der g'rojzftädtifche Verleger ergriff fie und gab ihnen Heimarbeit. 
Aus diefem Vorgänge erklärt fich der ftark weibliche Charakter fo mancher 
grofzftödtifchen Heiminduftrie. Indes find es nicht ausfchliefzlich Frauen, welche 
die ausgedehnte Hausinduftrie in der Grofzftadt ermöglichten. Häufig genug 
war es auch die männliche Überfchufzbevölkerung, die in dem harten Kampf 
ums Dafein begierig nach der Hausinduftrie als letztem Rettungsanker griff. 
*) Vgl. Alfr. Weber, Die volkswirtfchaftliche Aufgabe der Hausinduftrie, in 
Schmollers Jahrbuch 1901; d e r f e 1 b e, Die Entwicklungsgrundlagen der grofzftädti- 
fchen Frauenhausinduftrie, Sehr. d. V. f. S. 85, 13—60.
	        
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