Full text: Die Berliner Arbeiterbewegung von 1890 bis 1905

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besonders, wenn sie sich zur Zeit des Aufrufs „zufällig" am entgegengesetzten 
Ende des Saales befanden. So ward es denn 9 1 /« Ahr abends, bis endlich 
die Lauptwahl wenigstens zu Ende war. Sie ergab das oben schon mit 
geteilte Resultat, das eine Stichwahl notwendig machte. Sie mußte, gemäß 
der Vorschrift des Gesetzes, im unmittelbaren Anschluß an die Lauptwahl 
vorgenommen werden. Gültig waren für sie nur Stimmen, die für die 
Kandidaten abgegeben wurden, welche an erster oder zweiter Stelle standen, 
d. h. die konservativen und die liberalen Kandidaten. Aber nichtsdestoweniger 
nahmen auch die sozialdemokratischen Wahlmänner an der Stichwahl teil. 
Es machte ihnen Vergnügen, ihre Stimmen noch einmal abzugeben. Nur 
ließen sie dabei ihrer Phantasie und Laune etwas Spielraum und nannten 
alle möglichen Namen, die ihnen gerade durch den Kopf gingen: Eugen 
Richter und dessen Sparagnes, den Knabenprügler Dippold, den Lerrn 
Landrat von Stubenrauch und die Frau Landrätin, den „ollen ehrlichen 
Seemann" und das Warenhaus Wertheim, und was dergleichen Einfälle 
mehr waren. Das war alles ungültig, aber es mußte protokolliert werden. 
Das Gesetz schreibt keinem Wähler vor, wem er seine Stimme geben darf 
oder nicht darf, es regelt nur die Gültigkeit der Stimmen. So wurde es 
immer später in der Nacht, und immer müder wurden die Seelen. Gar mancher 
Wahlmann gab durch Naturlaute kund, daß er den Schlaf der Gerechten 
schlief, manchen anderen verließen die Geister und er zog seiner Wege. 
Der Morgen fing an zu grauen, aber der Wahlakt ging noch immer 
maschinenmäßig vor sich. Es schlug sieben Ahr, als er endlich abgeschlossen 
war. Mit 917 Stimmen hatten die Konservativen gesiegt, 615 Stimmen 
waren in der Stichwahl auf die Liberalen gefallen, 544 Stimmen wurden 
für ungültig erklärt. Es waren die gültigsten Stimmen: sie hatten in das 
ganze verrottete Wahlsystem Bresche gelegt. 
In der Begründung der Wahlrechtsänderung von 1906, die für 
bestimmte Fälle die Fristwahl einführt und eine Anzahl Wahlkreise, dar 
unter eben diesen Wahlkreis Teltow-Beeskow-Charlottenburg, in kleinere 
zerschlägt, erklärte am 23. März 1906 der Minister von Bethmann Loll- 
weg ausdrücklich, die Änderung sei unbedingt nötig, denn der bisherige Zu 
stand ermögliche „in großen Wahlbezirken Obstruktionsgelüsten so viel 
Angriffe gegen das ordnungsmäßige Zustandekommen des Wahlaktes selbst, daß, 
wie allgemein erinnerlich, es nur einer übergroßen und auf die Dauer 
nicht erträglichen Anstrengung der Wahlkommissare und Wahlvorsteher ge 
lungen ist, das Verfahren zu dem ordnungsmäßigen Abschluß zu bringen". 
Das war nirgends so sehr der Fall gewesen wie hier. Nun war die 
Wahlrechtsänderung von 1906 freilich ein klägliches Flickwerk. Sie sollte 
das alte Wahlsystem befestigen. Aber zwischen Absicht und Ergebnis 
gibt es oft eine große Kluft. Tatsächlich ist aus dem Flick ein großer Riß 
geworden und der Ausspruch hat sich als Prophetenwort herausgestellt, den 
am 20. November 1903 im Wahllokal für den dritten Berliner Wahlkreis, 
als das Resultat der Abgeordnetenwahl verkündet war, entrüstete Sozial 
demokraten den ob ihres zu Anrecht erlangten Sieges glückseligen Freisinnigen 
zuriefen: „Das ist das letztem«! gewesen, daß Ihr diesen Wahlkreis 
bekommen habt!" 
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