Full text: 10 Jahre Wiederaufbau

Nationalversammlung veranlaßt, daß in jedem jener 
‚Kronländer” des alten Staates, deren Gebiet zum 
neuen Staat gehören sollte, ebenfalls in revolutionäre 
Weise eine Konstituierung des Landes als Gebiets- 
körperschaft unter Leitung einer von der Volksver- 
tretung des Landes, also unabhängig von der zentralen 
Autorität bestellten Landesregierung durchgeführt 
wurde, und weiters von den Ländern „Beitrittser- 
klärungen” zum neuen Staat abverlangt. Diese: Er- 
klärungen wurden von der Provisorischen National- 
versammlung mit einem im Staatsgesetzblatt kundge- 
machten Beschluß — der also formell als Gesetz 
anzusehen ist — zur Kenntnis genommen. Es sei schon 
hier betont, daß diese beiden Vorgänge, nämlich 
einerseits die Bestellung tatsächlich unabhängiger 
Landesregierungen in den Ländern — die nach Er- 
lassung des wenig glücklich abgefaßten Gesetzes über 
„die Uebernahme der Staatsgewalt in den Ländern” 
vom 14. November 1918 zwar formell an die Weisun- 
gen der Staatsregierung gebunden erschienen, ohne 
daß aber hiefür irgend eine Sanktion eingeführ! 
worden war — und anderseits die Fiktion, als sei der 
neue Staat erst durch die vertragsartige Abgabe und 
Annahme der Beitrittserklärungen der Länder als ein 
Bund vorher konstituierter staatsartiger Gebilde ent- 
standen, nicht wenig dazu beigetragen haben, das im 
alten Oesterreich infolge der historisch-politischen 
Entwicklung auch in den Ländern deutscher Natio- 
Nalität stets stark entwickelte föderalistische Empfinden 
im neuen Staat aufleben zu lassen. Infolgedessen ent- 
Wickelte sich von allem Anfang: an ein harter und 
zäher Kampf zwischen zentralistischen und föderalisti- 
schen Tendenzen. Im späteren Verlauf führte dies zu 
derartigen Gefahren des Zerfalls oder doch der 
Auflösung in einen lockeren staatenbündischen Ver- 
band, daß sich die Notwendigkeit ergab, diesem Auf- 
lösungsprozeß durch ein Kompromiß zwischen den 
Selbständigkeitsbestrebungen der Länder und der Not- 
Wendigkeit einer Befriedigung der gesamtstaatlichen 
Bedürfnisse ein Ende zu setzen, und zwar durch die 
Einführung jener Organisationsform, die man als die 
bundesstaatliche zu bezeichnen pflegt. Bevor es 
aber zu dieser Lösung kam, mußte noch einmal, und 
zwar gleich nach dem am 4. März I0I9 erfolgten 
Zusammentreten der Konstituierenden Nationalver- 
sammlung — auf Grund des Gesetzes über die Wahl- 
ordnung vom 18. Dezember 1918 am 16. Februar I91C 
für eine zweijährige Gesetzgebungsperiode gewählt. 
zählte sie 170 Abgeordnete — die provisorische Ver- 
fassung abgeändert werden, da die Konstruktionen 
der ersten republikanischen Verfassung sich als 
nicht mehr den Verhältnissen entsprechend erwiesen 
hatten. 
2. Die zweite provisorische Verfassung besteht in 
den Gesetzen vom 14. März 10919 über die 
Volksvertretung und über die Staatsre- 
Sierung, Gesenühber der ersten bDrovisorischen 
Verfassung weist sie namentlich die folgenden drei 
grundlegenden Aenderungen auf: 
a) Die Leitung der Vollziehung durch den Staats- 
rat, der zugleich oberstes Regierungsorgan und Aus- 
schuß der Nationalversammlung war, und nebst den 
drei Präsidenten aus 20 Mitgliedern bestand, erwies 
sich als äußerst schwerfällig. Seine Arbeit in der 
zrsten Zeit des neuen Staatswesens ist gewiß sehr 
hoch einzuschätzen. Die rasche Einführung der erster 
provisorischen Verfassung und die sofortige Aufrich- 
tung einer Rechtsordnung, die reibungslose und zeit- 
zerechte Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse 
des jungen Staates müssen als ganz hervorragende 
Leistungen, wie sie kaum jemals unter so schwierigen 
Verhältnissen zustande gebracht worden sind, aner- 
kannt werden und haben den jungen Staat vor 
schweren Erschütterungen und Gefahren bewahrt. 
Als aber die ersten dringlichsten Arbeiten geleistet 
waren und nun das Hauptgewicht auf der Erledigung 
laufender Regierungsgeschäfte lag, zeigten sich die 
hemmenden Momente der Institution eines obersten 
Regierungsorganes, das aus so vielen Köpfen bestand, 
und mit dem die Staatsregierung als zweites Ver- 
waltungsorgan zu arbeiten hatte. Daher ergab sich 
die Notwendigkeit, einen einfacheren Apparat zu 
schaffen. Dies um so mehr, als die politische Kon- 
stellation nun zur Koalition nur der größten Parteien 
führte, während im Staatsrat — wie schon erwähnt — 
alle Parteien Vertreter hatten. Die neue Konstruktion 
bestand darin, einerseits das Zwischenglied des Staats- 
‚ates zwischen dem Parlament und der Staatsregierung 
auszuschalten, anderseits aber die Staatsregierung 
unmittelbar von der Volksvertretung wählen zu 
lassen: sie wurde von „Beauftragten des Staatsrates” 
zu einem Kollegium von „Volksbeauftragten”. Auch 
in diesem Aufbau liegt eine systematische Durchführung 
des Prinzips der Parlamentsherrschaft. Die gesetz- 
zebende Körperschaft bestellt unmittelbar die Voll- 
zieher ihres Willens, nämlich der Gesetze, und kann 
jederzeit deren Abberufung durch ‚ein Mißtrauens- 
votum erzwingen. Auf der anderen Seite aber gewann 
die Staatsregierung in der Führung der Verwaltung 
»ine bei weitem selbständigere Stellung, wie dies den 
praktischen Bedürfnissen entspricht; eine Stellung, die 
allerdings durch die staatsrechtliche Verantwortlich- 
keit gegenüber der Nationalversammlung sowie durch 
die Absetzbarkeit im Fall eines Mißtrauensvotums 
nittelbar beschränkt ist. Das Vorstellungsrecht gegen 
Beschlüsse der Nationalversammlung. ging auf die 
Staatsregierung über. 
Gleichzeitig mit der Beseitigung: des Staatsrates 
wurde ein neues Organ der Nationalversammlung 
geschaffen, der aus dem Präsidenten, dem zweiten 
und dem dritten Präsidenten und elf Mitgliedern be- 
stehende Hauptausschuß, dessen Funktionen haupt- 
sächlich auf gewisse wichtige Akte der Mitwirkung 
der Nationalversammlung an der Vollziehung (zum
	        
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