Full text: Die Methoden der Volkszählung, mit besonderer Berücksichtigung der im preussischen Staate angewandten

2 
fülle des Volks, sondern die Summe der erlebten Altersjahre 
einer Generation ist erst das entscheidende Kriterium. 
3) Hinsichtlich der körperlichen Beschaffenheit ist 
zu erwähnen, dass man bei den Zählungen zwar mehr als den 
Sinnesmangel ins Auge fassen und zur Ziffer bringen kann, 
allein ausser Ersterem Alles andere doch nur ungenau. Auf 
die Erhebung von Nachweisen über innere Krankheitsverhält 
nisse ist von vornherein ganz zu verzichten, und was die Auf 
zeichnung von Nachrichten über Gliedermangel oder mangel 
haften Gebrauch der Glieder anlangt, die wohl in einzelnen 
Staaten zu geschehen pflegt, so steht die Wichtigkeit der 
Ergebnisse mit den Mühen, Vorwürfen und Spötteleien ihrer 
Gewinnung in keinem Verhältniss. Die preussischen Tabellen 
sind daher in genannter Richtung so vollständig als möglich, 
ja sogar dadurch, dass sie gewisse Altersclassen der Mangelsin- 
nigen unterscheiden, vollständiger als die vieler anderer Staaten. 
Nur Frankreich steht Preussen noch voran, indem dessen 
Zählungen auch noch unterscheiden, ob der Sinnesmangel dem 
betreffenden Individuum angeboren oder erst später überkom 
men ist. 
4) Die preussischen Tabellen schweigen dagegen über zwei 
sehr wichtige Dinge: die Blödsinnigkeit und Irrsinnig 
keit. Erstere identifient sich mit einem Mangel von Ver 
standeskräften, letztere mit einem Ueberreize solcher. Beide 
Verhältnisse greifen oft tief in das Familienleben ein. Aber 
auch für den Staat ist ihre Kenntniss von höchster Wichtigkeit, 
denn erstere kann zur Volkskrankheit werden ; der Cretinismus 
ist es wenigstens. Letztere, die Irrsinnigkeit, ist nicht selten 
die Folge eines einseitig ausgebildeten, hochverfeinerten Cultur- 
lebens. Wo die eine oder die andere Ziffer constant wächst, da be 
deutet das nicht blos unglückliche Menschen, deren Zahl sich 
um einige vermehrt, sondern ein solches Wachsthum ist ein 
warnendes Symptom dafür, dass die socialen oder auch die 
politischen und religiösen Verhältnisse irgendwo tief gestört 
sind. Wie aber die physische Heilkunst ihr Werk schon 
zur Hälfte gethan hat, wenn sie die Diagnose einer Krank 
heit richtig stellte, ebenso besteht die Regierungskunst zu einem 
guten Theil auch darin , die socialen und anderen Gebrechen 
im Staat sicher zu erkennen. Jene beiden Angaben, die der 
Blödsinnigkeit und Irrsinnigkeit nämlich, sollten daher in dem 
staatlichen ißymptomencodex nicht fehlen. 
5) Hinsichtlich des Religionsbekenntnisses der Be 
wohner sind die jetzigen Tabellen ganz ausreichend. Sie sind 
es aber nicht 
6) hinsichtlich des Familienstandes. Dieses Wort ist 
eine Uebertragung des französischen état civil ins Deutsche ; es 
fasst diejenigen öffentlichen Verhältnisse des Individuums zu 
sammen, die in der Institution der Familie, resp. der Ehe wur 
zeln. Die preussischen Tabellen geben nur die Zahl der Ehe 
paare an; über alle die sonstigen hierher gehörigen Verhältnisse 
geben sie keine Auskunft. Nun ist es wohl richtig, dass eine 
Volkszählung, welche z. Th. nur durch die Mitwirkung der 
zu befragenden Bewohner selbst zu Stande kommt, sich nicht 
auf alle und keinesfalls auf diejenigen Verhältnisse mit er 
strecken darf, auch wenn sie von erheblicher Wichtigkeit 
wären, die den Befragten einen Makel ins Gedächtniss rufen, 
wie z. B. die uneheliche Geburt. Dass aber mit vollster 
Sicherheit des Erfolgs darnach zu fragen ist, ob Jemand ver- 
wittwet ist, ob Eheleute getrennt leben, ob sie von einander 
geschieden sind, — das ist bereits durch eine grosse Zahl 
der umfangreichsten Zählungen constatirt. Die Thatsachen, 
welche dadurch bestimmten Ausdruck gewinnen, sind auch 
zu wichtig, als dass die bezeichnete Lücke länger in den 
preussischen Tabellen bestehen könnte. Es sind zwar die 
Trauungen an und für sich der empfindlichste Barometer für 
die öffentlichen Zustände, denn ihre Zahl wächst und fällt, je 
nachdem diese Zustände besser oder schlechter werden; doch 
giebt es neben den periodischen Störungen in der Zahl der Ehen 
auch constante, die sich in der socialen Möglichkeit der Ver 
ehelichung überhaupt wiederspiegeln. In der Combination mit 
anderen Daten erschliessen die Angaben über den Familien 
stand eine Fülle der interessantesten, das physische und sitt 
liche Familienleben (so weit es in die äussere Erscheinung 
tritt) charakterisirende V erhältnisse. 
7) Was nun den Stand und Beruf, den Erwerb und 
das Vermögen anlangt, so gebührt den preussischen Tabellen 
wohl unbestreitbar das Verdienst einer frühzeitigen verhältniss- 
mässig grossen Vollständigkeit. Auch die gegenwärtigen ge 
währen hierüber mancherlei Einsicht, doch keine hinreichende. 
Nothwendig ist, dass man hierbei nicht blos mehr oder weniger 
willkührlich einzelne Berufszweige erfasse, sondern dass man 
von jedem Bewohner im Staate die so eben genannten Ver 
hältnisse erforsche. Zur gründlichen Auffassung der ganzen 
nationalökonomischen Lage eines Landes und zur Beurtheilung 
seines wirthschaftlichen und finanziellen Fortschreitens ist deren 
9 
Kenntniss geradezu unentbehrlich. Eine sorgfältig und ver 
ständig gearbeitete Zählung der Bewohner nach Berufs- und 
Erwerbsclassen ist nicht blos die sicherste Basis für eine 
brauchbare Gewerbe- und Handelsstatistik, sondern in Ermang 
lung letzterer sogar ein Surrogat dafür, denn es ist nicht 
schwer, aus einer so geordneten Zählung mit ziemlicher Sicher 
heit auf die Grösse der Production und Consumtion einer Be 
völkerung, mithin auch auf deren internationale Tauschbezie 
hungen, zu schliessen. Die landwirtschaftliche Statistik ruht 
ebenfalls auf der Basis einer guten Bevölkerungsstatistik. 
Wenn man die ganze Bevölkerung in Standes- und Be 
rufsgruppen unterbringen will, so muss dies logisch ge 
schehen. Gegen dieses Gebot verstossen die preussischen 
Tabellen leider hier und da. Die neuvereinbarten zollvereins 
ländischen Tabellen lassen bedauerlicherweise den so eben 
hervorgehobenen Zweck gleichfalls ziemlich ausser Acht; sie 
confundiren wie es die preussischen auch thun: Gewerbe 
statistik mit Statistik der Bevölkerung nach Stand und Be 
ruf, und so sind keine von beiden das Eine oder das Andere 
ordentlich und vollständig. Dem älteren preussischen For 
mular, welches nach und nach entstand und so zu seiner 
jetzigen Ausdehnung heran wuchs, gereicht es aus den vorn 
entwickelten Gründen weniger zum Vorwurf, dass es eine 
Mischung verschiedener Zwecke repräsentirt, das zollvereins 
ländische ist aber davon nicht ganz freizusprechen. Die Be 
schlüsse des Wiener statistischen Congresses scheinen ganz 
ohne Einfluss auf die endliche Feststellung der Rubriken ge 
blieben zu sein, ebenso dürften auch Hinblicke auf musterhafte 
Vorlagen fast ganz unterlassen worden sein. Vor einer stren 
gen Kritik können daher diese neuen Formulare aus vielen 
Gründen nicht bestehen. Es wäre vor allen Dingen noth 
wendig gewesen, erst die Bevölkerungsstatistik in dem be- 
zeichneten Sinne auszubilden, ehe man an eine Gewerbe - und 
Handelsstatistik ging, deren Haupteigenschaft doch immer wie 
der die Unvollständigkeit und Unbestimmtheit sein wird. Nie 
mand dürfte nämlich darüber einen Zweifel hegen, dass eine 
Industriestatistik, dafern sie Anspruch auf Vollständigkeit machen 
will, wenigstens Aufschluss geben müsste : 
1) über die Sitze der Industrie und der industriellen Be 
völkerung ; 
2) über die Zahl der industriellthätigen lebenden und todten 
Maschinenkräfte ; 
3) über den Umfang der Production und Consumtion; 
mit anderen Worten also über die Elemente jeder Production: 
Natur, Arbeit, Capital und Absatz. 
Legt man diesen Massstab an die preussischen wie auch 
an die Zollvereinsformulare, so giebt sich sofort zu erkennen, 
dass in beiden der Begriff der Industrie einestheils zu eng gefasst, 
anderntheils willkührlich in die Breite gezogen worden ist. Zu 
eng insofern, als die Nationalökonomie den Begriff der In 
dustrie auch auf die Landwirtschaft, Viehzucht, Forstwirt 
schaft, Jagd, Fischerei, den Bergbau und Steinbruchbetrieb, 
sodann auch auf den Handel und Verkehr ausdehnt. Das 
ganze Versicherungswesen fällt gleichfalls der Industrie an 
heim, und im allerweitesten Sinne des Worts ist Alles, was 
des Erwerbs wegen geschieht, also das gesammte Bereich der 
menschlichen Arbeit, Industrie. Und mit Recht. Denn Das 
kann keinen durchgreifenden Unterschied begründen (am aller 
wenigsten in der Statistik der Bevölkerung), dass die Einen 
mit ihrer Arbeit materielle und tauschbare Güter produciren, 
die Andern immaterielle. Gehören aber nicht geistige Bildung, 
welche die Lehrer und Gelehrten produciren, Schutz des Eigen 
thums, welchen die Beamten und die Militairmacht produciren, 
nicht eben so zu den nothwendigsten Lebensbedürfnissen wie 
Nahrung und Kleidung? Nur der Sprachgebrauch verhindert, 
die Dinge beim rechten Namen zu nennen. Dem Sinne und 
Wesen der Sache nach fällt die Erzeugung der immate 
riellen Güter unzweifelhaft in das Gebiet der Industrie. Um 
so richtiger ist es daher, sämmtliche Berufsarten, die es über 
haupt giebt, nur einer Classification zu unterwerfen und sie 
nicht, wie es bisher geschehen ist, und auch noch durch die 
Zollvereinstabellen bis zur Wendung zum Bessern zu gesche 
hen hat, über eine Menge von Tabellen zu zerstreuen, und 
dennoch die wichtigsten dabei unberührt zu lassen. Es fehlt 
nämlich in letzteren die Industrie des Ackerbaues etc. gänz 
lich, eben so fehlen auch alle die Berufszweige zur Hervor 
bringung immaterieller Güter. 
Wenn es sich um eine Classification sämmtlicher Berufs 
zweige handelt, so kann man zwar wie in allen Classifications 
fällen von verschiedenen Standpunkten ausgehen. Man kann 
die Erzeugungsmethode, das wesentlichste Rohmaterial, den 
Zweck des Products, zur Basis der Eintheilung wählen. Für 
und gegen jede Eintheilung werden sich Gründe auffinden las 
sen. Allein keinem Zweifel unterliegt es, dass diejenige die 
richtigste ist, welche in ihren Consequenzen zu den geringsten
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.