Full text: Die deutsche Hausindustrie

§ 5. Heimarbeit und Sittlichkeit 
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nicht vergeffen, daß der fittliche Tiefftand der Heimarbeite 
rinnen fich durch mancherlei Gründe erklären läßt, daß 
ihre traurige wirtfchaftliche Lage fie auf fchmutzige 
Bahnen zu drängen wohl geeignet ift. 
Die elenden Löhne in der Heimarbeit bieten wohl in den allermeiften 
Fällen eine hinreichende Erklärung für den unfittlichen Nebenerwerb. Man 
hat die Heimarbeitslöhne ja faft ebenfooft fchon Proftitutionslöhne als 
Hungerlöhne genannt. Die amtlichen Ermittlungen über die Lohnverhält- 
niffe der Konfektionsarbeiterinnen von 1887 erkennen für den Regierungs, 
bezirk Erfurt unumwunden an, daß „die Näherinnen, foweit fie einen un- 
fittlichen Lebenswandel führen, hierzu durch ihren geringen Verdien ft veran 
lagt werden dürften“. Ähnlich berichten die Ermittlungen über Berlin. Die 
erwähnte Schrift von Neher nimmt einen direkten urfächlichen Zufammen- 
hang zwifchen ungenügendem Lohneinkommen und Proftitution der Stutt 
garter Näherinnen an. Wie früher (S. 82) dargetan wurde, hat eine Berliner 
Konfektionsheimarbeiterin ein Durchfchnittsjahreseinkommen von etwa310 M.r 
fie hat alfo, wenn fie nicht verheiratet ift oder in ihrer Familie einen wirtfehaft- 
lichen Halt findet (und die meiften der Heimarbeiterinnen in der Großftadt 
find ledig), in der Woche etwa 6 M. zur Beftreitung ihrer 
gefamten Lebensbedürfniffe. 
Davon kann fie unmöglich leben. Sie ift alfo Tag für Tag vor die quälende 
Frage geftellt: Wie kann ich noch hinzu verdienen? Gelegenheitsarbeit und 
Privatkundfchaft ift nicht immer vorhanden; fie bieten auch einen unfichern 
und oft recht kargen Verdienft. Alles, was die Unglückliche in der Großftadt 
täglich fieht und hört, ihre eigne nüchterne Überlegung, die durch fittliche 
Urteile am allerwenigften beeinflußt ift, fagt ihr, daß die Proftitution der be 
quem fte Nebenerwerb ift. 
Wo hätten diefe bedauernswerten Gefchöpfe auch ein feines fittliches 
Urteil bei fich ausbilden, wo den fittlichen Halt gewinnen können, der fie 
vor dem Fall in die Tiefe, vor der Preisgabe ihrer Ehre und Reinheit bewahrt? 
Sie ftammen meift aus jenen armen und ärmften Familien, in denen Vater 
wie Mutter über dem Suchen nach Erwerb die Kindererziehung vernachiäffigen. 
Die Kinder find früh fchon fich felbft überlaffen. Und wachfen fie zudem 
in der Großftadt auf, fo fpielen fich vor ihren Augen Dinge ab, die fchon im 
zarten Alter jegliches Schamgefühl erfticken. 
Die Putzfucht und Eitelkeit, die bei den großftädtifchen Heimarbeiterinnen 
fehr ftark ausgebildet ift, treibt fie ebenfalls fehr leicht der Proftitution zu. 
Das beftändige Anfehen, Verfertigen und Sortieren der bunten Modeartikel,
	        
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