§ 5. Heimarbeit und Sittlichkeit
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heimnis, da|z eine Anzahl Frauen und Mädchen der Arbeiterkreife fich nächt
licherweile proftituieren. Da die hausinduftrielle Arbeiterin das einzige, was
fie befitzt, ihre Arbeitskraft, zu billig weggeben mu(z, [o fieht fie fich ge
zwungen, ihre Ehre und Sittlichkeit auch noch für Geld wegzugeben. Jahre
lang war der Sonneberger Bahnhof mit feinem regen Fremdenverkehr der
Schauplatz diefes nächtlichen Treibens, bis die Polizei gegen diefe zum öffent
lichen Ärgernis gewordenen Zuftände einfehritt. Seitdem hat fich das Lafter
in das Innere der Stadt, in die Gaffen und Winkel geflüchtet.“
Soviel dürfte aus diefen Ausführungen erfichtüch fein : die H e i m-
arbeiterfrage und fpeziell die Heimarbeiterinnen
frage hat auch ihre fehr ernfte ethifche Seite, und da eine
der ftärkften und triebkräftigften Wurzeln der Unfittlichkeit in diefen Kreifen
das foziale Elend ift, fomufz auch vom religiöfenundethi-
fchen Gefichtspunktausvor allen Dingen mit einer
fozialen Reformarbeit begonnen werden.
Die Relation Heimarbeit und Sittlichkeit ift in diefem Abfchnitt nach
ihrer fchlimmften Seite gefchildert, und dabei ift das Wort Sittlichkeit bzw.
ihr Gegenteil in einem ganz fpezififchen Sinne gebraucht.
Die Objektivität gebietet, dafz wir nun die allgemein fittliche
Bedeutung der Heimarbeit kurz unterfuchen und feftftellen, ob fie fitt
liche Werte befitzt oder folcher ganz bar ift. Wer an den ethi fchenWert
der Arbeit überhaupt glaubt, wer daran glaubt, dajz die Arbeit als folchc
geeignet ift, den Menfchen auch nach feinen höhern Anlagen zu veredeln,
mujz diefen Wert der Heimarbeit für gewiffe Fälle wenigftens in erhöhtem Ma|ze
zuerkennen. Denn fie ift es, die zahlreichen Menfchen in der Tat erft die Ar
beitsgelegenheit, und zwar nach Lage der Verhältniffe die einzige Arbeits
gelegenheit bietet und fie vor dem Müfziggehen fernhält. Mancher kräftige
Mann, der im Sommer Ackerpflug und Senfe führt und die Ernte heimbringt,
würde in den Wintermonaten ohne die Hausinduftrie träge auf der Ofenbank
liegen, der Familie zum Ärger und fchweren materiellen Schaden. Manche
Frau würde ohne die Heimarbeit viele Stunden im Tage zwecklos vertändeln.
Viel augenfcheinlicher find die ethifchen Vorteile der Heimarbeit für die
Familie. Der natürliche Zufammenhang der Familie kann durch die Heim
arbeit geftärkt werden; der erzieherifche und fchützende Einflufz der Familie
kommt ungehemmt den Einzelgliedern zugute. In den ländlichen Gegenden
am Niederrhein ziehen nicht wenige junge Mädchen aus dem Grunde die
Heimarbeit der Fabrik vor, weil ihnen der unter Fabrikmädchen herrfchende
Umgangston nicht gefällt und weil die fittlichen Gefahren geringer find als