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Die Fortschritte des Weltverkehrs seit 1900.
1. Die großen Hauxtlinien des Weltverkehrs zu Lrmdr.
Unter den großen Hauptbahnen des Weltverkehrs, die seit der letzten Jahrhundert
wende dem Betrieb übergeben worden sind, hat für europäische Verhältnisse zweifellos keine
eine größere Bedeutung erlangt als die große Sibirische Bahn. Über diese ist bereits oben
ans S. 46 einiges gesagt worden (vgl. auch die Karte ans S. 47). Während die ursprüng
lich am Amur entlang geplante Strecke erst gegenwärtig, unabhängig von der Hauptlinie,
als sogenannte „Amurbahn" gebaut wird, ist die Hauptbahn durch das chinesische Gebiet
der Mandschurei hindurch in der auf S. 47 veranschaulichten Weise geführt worden. Tie
gesamte Sibirische Bahn ist 6526 Werst (1 Werste 1066 in) lang; der Bau wurde am
31. Mai 1891 begonnen und am 3. November 1901 nach wenig mehr als zehnjähriger Bau
zeit vollendet. Es ist dies eine ganz hervorragende Leistung, die angesichts der unwirtlichen
Gegenden und des furchtbaren Klimas dcS Landes doppelt bewundernswert ist. Wurden
doch im Durchschnitt täglich über 1 1 / 2 km Bahn hergestellt! Das ist ein Ergebnis, wie
es noch bei keinem anderen Bahnbau erzielt worden ist. Allerdings wurde das sehr
schwierige Stück, das den Baikalsee im Süden umgeht und das zum Teil durch wildes Ge-
birgslaud führt, erst später, 1906, mit Hilfe von 33 Tunnels und 210 Brücken, Über
führungen und anderen Kunstbauten und mit einem Kostenaufwand von 210 Millionen
Mark fertiggestellt, während bis dahin die Verbindung über den See zwischen den beiden
llfcrendeu der Bahn im Sommer durch große Dampffähren bewerkstelligt wurde, und im
Winter, zumal im Kriegswinter 1904,05, durch eigene Schienen, die über das dicke Eis
des Sees gelegt wurden und auf denen die Züge die Menschen und Frachten beförderten.
Ter Endpunkt der Sibirischen Bahn ist Wladiwostok, der wichtigste Stützpunkt der
russischen Herrschaft im fernen Osten. Doch verabsäumten die Russen nicht, auch die 1898
Von ihnen „gepachtete" Kwantung-Halbinsel mit der wichtigen, seit 1904 so berühint ge
wordenen Festung Port Arthur und dem neu von ihnen ins Leben gerufenen Handelshafen
'Dalni an die Sibirische Bahn anzuschließen. In Charbin (Kharbin) wurde zu diesem Zwecke
eine 1577 km lange Seitenbahn südlich abgezweigt. Sowohl diese „südmandschurische"
wie die ganze Sibirische Bahn haben 1904/05 zur Genüge gezeigt, welche ungeheure stra
tegische Bedeutung ihnen zukam. Ohne sie wäre Rußlands unglücklicher Krieg gegen Japan
noch viel verhängnisvoller verlaufen, ohne sie hätte Rußland auch nicht den verhältnis
mäßig noch günstigen Frieden von Portsmouth (29. August 1905) erlangen können; aber
durch die Bahn war es in der Lage, den schon fast erschöpften Japanern immer neue
Truppen aus Europa entgegenwerfen zu können, so daß die Sieger einen raschen Frieden
und einen nur teilweisen Erfolg der weiteren Versuchung des Kriegsglückes vorzogen.
Immerhin wurde damals mit Süd-Sachalin und der Kwantung-Halbinsel auch der südliche
Teil der Südmandschurischen Bahn, bis zur Station Kwangtschöngtsu, japanisch, so daß
die von den Russen zum Schutz ihrer militärischen Herrschaft gebaute Bahn heute den Ja
panern ein strategisches Mittel ersten Ranges zur steten Bedrohung der russischen Macht
in Ostasien geworden ist.
Wichtiger aber als in strategischer Hinsicht ist die Sibirische Bahn für das Wirtschafts
leben Europas und Asiens geworden. Nachdem sie während des Krieges für die öffentliche
Benutzung vollständig gesperrt und nur für die Transporte der russischen Regierung reser
viert war, hat sie sich nach dem Friedensschluß überraschend schnell entwickelt. Sie kürzte
die Reise zwischen Europa und Russisch-Ostasien bzw. Japan, ja selbst China außerordent
lich stark ab, und wenn auch die West- und Mitteleuropäer anfangs nicht unberechtigte
Bedenken gegen die „russischen Zustände" im kulturfernen Sibirien hegten, so hat sich die
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