Full text: Anfangsgründe der Volkswirtschaftslehre

74 Anfangsgründe der Volkswirtschaftslehre. 
Kapitalien solchen Umfang annahmen, daß sie denen, welche 
noch nicht ein Vermögen gemacht hatten, unzugänglich 
wurden. So ist der Besitz des Kapitals in gewissem Grade 
ein Monopol für die Besitzenden geworden, und diese haben 
ihre Bedingungen diktieren können. Was kann in der Tat 
ein Proletarier machen — so nennt man die, welche nichts 
als ihre Arme besitzen — wenn er arbeiten will und hat nicht 
eines jener Produktionswerkzeuge, Land oder Kapital? Was 
kann der tun, der heutzutage keine Arbeit findet? Mit der 
Angelschnur fischen? Da gehört noch ein Angelstock zu, der 
schon ein erstes Kapital bedeutet. Maiglöckchen zum Verkauf 
pflücken? oder am Bahnhof die Reisenden erwarten, um ihnen 
das Gepäck zu schleppen? oder die Wagen vor dem Theater 
abwarten, um die Wagenschläge aufzumachen? Das ist kein 
Arbeiten mehr, das ist Bettelei. Der Kapitalist allein kann 
demnach Arbeit geben. 
Erwäge man das Eigenartige des Wortes „Arbeit geben"? 
Man beachte, daß das die so oft gehörte, von soviel Elenden 
ausgesprochene Formel ist: „Ich will kein Almosen; geben Sie 
mir Arbeit!" Also ist die Arbeit, die dem Anschein nach nicht 
nur eine Möglichkeit, sondern eine Pflicht für jeden Menschen 
darstellt, der Erlaubnis eines andern unterworfen. Man kann 
nur unter der Bedingung arbeiten, daß man einen Eigen 
tümer oder Kapitalisten findet, der die Mittel dazu liefert, 
wenn der Arbeiter nicht arbeitslos sein soll. 
Solange jedoch das Unternehmen bescheidene Verhältnisse 
bewahrt hat, solange — wie eben bemerkt — der Proletarier 
die Hoffnung, die Aussicht haben konnte, selbst Kapitalist, 
Chef, zu werden — und dies war in jener ganzen Periode des 
Mittelalters der Fall, wo fast alle Arbeiter zunächst als Lehr 
linge, dann als Gesellen, dann als Meister arbeiteten und wo 
die heutigen Klassenunterschiede nur Gradunterschiede waren, 
da man ja sich zu einem höheren Grade hinaufarbeiten konnte 
— in diesen Verhältnissen war die Lage annehmbar. Daher 
hat das freche Wort „Arbeit geben" jahrhundertelang niemand 
verletzt, auch die Arbeiter nicht. Sie nahmen es als den 
Ausdruck einer Wahrheit hin; wer Arbeit gab, war der 
„Meister", ein Name, der heute noch auf dem Lande üblich 
ist und der ohne Groll ausgesprochen wird. Der Meister ist 
zu gleicher Zeit der Wohltäter, da er die Möglichkeit zur 
Arbeit, zum Lebensunterhalt verschafft^ Die höchste Form 
der Hilfe, die der Reiche dem Armen gewähren kann, die 
Hilfe, die Volkswirtschaftler und Moralisten dem Reichen
	        
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