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Die Gesellschaft braucht durchaus noch nicht zur strengen Ein
ehe fortgeschritten zu sein, wenn sie bestimmte Formen des außer
ehelichen Beischlafes als Prostitutionsakte brandmarkt. Die alten
Patriarchen des jüdischen Volkes lebten polygamisch, der Zwang zur
Einehe bestand nur für die Frau, und dennoch tauchen in diesen
patriarchalischen Tagen schon die sicheren Anzeichen der Prostitution
auf. Auf offener Straße, wo sonst die Huren zu sitzen pflegen, er
wartet Thamar tief verschleiert ihren Schwiegervater Inda. „Da
sie nun Juda sahe," erzählt Me Bibel, „meinte er, es wäre eine
Hure, denn sie hatte ihr Angesicht verdeckest" Juda läßt in ihren
Händen ein Pfand zurück, das er gegen ein Böcklein als Lohn feiler
Liebe eintauschen will. Jedoch der Knecht, der das Böcklein der
vermeintlichen Hure überreichen will, findet sie nicht mehr. Nach
einiger Zeit dringt das Gerücht aber zu Juda: Thamar sei von
Hurerei schwanger geworden. Und nun soll Thamar als eine voll-
bürtige Jüdin den Feuertod sterben; denn nicht die Jüdin, nein nur
das landcsfremde Weib durfte ihren Leib verkaufen. Die Jüdin
lebte in einer monogamischen Familie, jeder außereheliche Verkehr
war für sie eine schwere Versündigung gegen Recht und Sitte. Das
fünfte Buch Moses verkündet den Juden im 23. Kapitel: „Es soll
keine Hure sein unter den Töchtern Israels und kein Hurer unter
den Söhnen Israels."
In Athen ist zur Zeit der Blüte dieser Stadt die Monogamie
die herrschende Eheform. Nur die in einer Einehe mit einer
athenischen Bürgerin erzeugten Kinder sind freie athenische Bürger.
Der Athener selbst war an den Verkehr mit seiner legitimen Gattin
durchaus nicht gebunden. Fm eigenen Hause waren ihm die
Sklavinnen zu Willen, er erheiterte sich mit Flötenspielerinnen und
vergnügte sich in den feilen Umarmungen von Hetären.
Die Prostituierte Griechenlands, so auffällig und lärmend sie
sich auch im öffentlichen Leben bewegte, ist sozial mißachtet. Die
Prostituierte treibt einen wirklichen Schacher mit ihren Um
armungen. Die Prostitution ist in Griechenland eine vom Volks
bewußtsein abfällig beurteilte, eine sittlich tief eingeschätzte Sozial
erscheinung. Die Hingabe der Frau an den Gastfreund, die in
früheren Gesellschaftsepochen blühte und in der Geschichte
der Prostitution vielfach mit Unrecht als ein Prostitutions
akt gebucht ist, entbehrte aller wirklichen Merkmale der
Prostitution. Diese Hingabe war nicht an Geschenke geknüpft.
Sie. wurde allgemein als Volkssitte geübt, und auf ihr
ruhte daher nicht der Fluch der sozialen Mißachtung. Auch
wenn sich die Mädchen Babylons nach dem Berichte Herodots
den Fremden in die Arme warfen und Geldgeschenke von ihnen
empfingen, so prostituierten sie sich eigentlich nicht, das heißt, sie
stellten sich nicht znr Schande aus, sondern sie huldigten nur einem
allgemeinen, von dem Volksbewußtsein mit Ehrfurcht betrachteten
Religionsgebrauche: Ter Geograph Strabo spricht von der Hingabe