Full text: Sozialpolitik in Österreich 1919 bis 1923

einzelne Vorsitzende der Einigungsämter, sondern vielfach auch 
Senatsmitglieder sich von dem Standpunkt des früheren „Herren— 
rechtes“ im Betriebe nicht freizumachen vermochten. 
Dies zeigte sich vor allem in den Entscheidungen über das 
Wahlrecht sowohl bei Arbeitern als auch bei Angestellten; nicht 
nur was die Wahlberechtigung einzelner Berufsgruppen (zum 
Beispiel der Ordensschwestern) zum Zweck des Zustandekommens 
„willfähriger“ Betriebsräte anlangte, sondern auch die Zusammen— 
setzung des Betriebsrates (Rücksichtnahme auf die Vertretung der 
Angestellten). Letzteres war für die Angestellten auch nach anderer 
Richtung von Bedeutung, aus welchem Grunde im Jahre 10920 
durch den Erlaß des Staatsamtes für soziale Verwaltung vom 
13. Juli die Erhöhung der Mitgliederzahl des Betriebsrates in 
bestimmten Fällen verfügt wurde. Im allgemeinen hat man sich 
bezüglich der Gültigkeit der Wahlen vielfach an die Nichteinhaltung 
von Formalitäten geklammert. Damit wurde zwar das Entstehen 
von Betriebsräten nicht verhindert, immerhin aber ihre Wirksam— 
keit verzögert. Damit wurde auch gewiß kein Unternehmer von der 
Wirksamkeit der Betriebsräte befreit, vielmehr eine Beunruhigung 
der Beschäftigten hervorgerufen. Allerdings lagen derartige Vor— 
gangsweisen im Sinne des Rundschreibens des Hauptverbandes 
der Industrie vom 17. November 1921, in welchem die Weisung 
erteilt wurde: „Das Betriebsrätegesetz ist strikte und ein— 
schränkend auszulegen.“ 
Eine charakteristische Gesetzesauslegung machte sich nach der 
Richtung bemerkbar, ob eine Streitigkeit in die „schiedsgerichtliche“ 
oder in die „rechtsprechende“ Tätigkeit einzureihen sei. Hier 
sowie in manch anderen Fällen dürften nun die inzwischen er— 
flossenen „Gutachten“ des Obereinigungsames wesentlich zu einer 
einheitlichen Auffassung des Gesetzes beitragen. Bei der Reihung 
solcher Streitigkeiten kam namentlich die Frage in Betracht, ob die 
Streitigkeiteen aus der erstmaligen Errichtung eines Be— 
triebsrates, beziehungsweise die Anfechtung der Kündigung oder 
Entlassung der hiefür in Aussicht genommenen Personen in den 
Rahmen der rechtsprechenden Tätigkeit gehören. Das Gutachten 
des Obereinigungsamtes hat sich für letzteres entschieden. Es 
erscheint damit diesem Personenkreis für die Zukunft ein gewisser 
Schutz gesichert zu sein. Divergierende Ansichten ergaben sich in 
den Fragen der Stellung von Direktoren hinsichtlich ihrer Ver— 
pflichtung zur Leistung der Betriebsumlagen sowie des Einblickes 
der Betriebsräte in deren Gehaltslisten. Solch einander wider— 
sprechende Entscheidungen traten übrigens auch bei den Fragen 
der Anfechtung von Kündigungen oder Entlassungen sowohl von 
Betriebsräten als auch von anderen Personen zutage. Es darf 
vohl gesagt werden. daß sich die Einiagunasämter wie auch das
	        
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