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unter den Sozialdemokraten Berlins die Meinungen hinsichtlich jener Frage
recht weit auseinandergingen, daß Anhängern der pessimistischen Auffassung
Bebels Vertreter der Anschauung gegenüberstanden, daß die Gewerkschaften
auch dem zentralisierten Kapital gegenüber noch manche Siege zu verzeichnen
haben würden. Überall aber endeten die Debatten mit einmütiger Annahme
der Kölner Resolution, das heißt mit Zustimmung dazu, daß, welches
auch die weitere Zukunft der Gewerkschaften sei, sie in der Gegenwart für
den organisierten Widerstand der Arbeiter gegen den Druck auf ihre Löhne
und sonstigen Arbeitsbedingungen unentbehrlich seien und der Anschluß an
die Gewerkschaft seines Berufes daher die Pflicht jedes sozialdemokratischen
Arbeiters sei.
Den Charakter von Konferenzen trugen auch Volksversammlungen, die
sich Ende 1893 mit der Frage des Verhältnisses der Berliner Charit^ zu
den Ortskrankenkassen beschäftigten und, zugleich mit einer Boykottbewcgung
gegen die Charitch eine lebhafte Teilnahme am Werk einer um die gleiche Zeit
ins Leben gerufenen Berliner Arbeiter-Sanitätskommission zur Folge
hatten, über die ein anderes Kapitel berichtet. Das gleiche gilt von dem
großen Kampf, den die Arbeiterschaft Berlins im Jahre 1894 mit dem
Verein der Berliner Bierbrauereien führte und der nach sieben-
monatiger Dauer mit einem starken Erfolg der Arbeiter endete. Dieser nach
■Umfang und Art der Führung seinesgleichen suchende Kampf gab wieder
holt zu Massenversammlungen der Sozialdemokratie Berlins Anlaß, von
denen die meisten allerdings mehr ins Kapitel der Demonstrationen gehören.
Nur in einigen der Versammlungen, die am 28. Dezember 1894 das Ende
des Kampfes — des großen Bierboykotts — proklamierten, führten
Meinungsverschiedenheiten über die Annehmbarkeit der Friedensbedingungen
zu scharfen Auseinandersetzungen. Darüber jedoch im betreffenden Kapitel selbst.
Aufsehen weit über Berlin hinaus und lebhafte Debatten verursachte
eine Versammlung des zweiten Berliner Reichstagswahlkreises, in der am
14. November 1894 August Bebel scharfe Kritik am Frankfurter Partei
tag wegen dessen Ergebnislosigkeit in der Frage der Budgetbewilligung
der Bayern übte und vor Nachgiebigkeit gegenüber den sich nach seiner
Ansicht in der Partei breitmachenden spießbürgerlichen Tendenzen warnte.
Ignaz Auer und Richard Fischer, die gleichfalls in der Versammlung das
Wort nahmen, erklärten Bebels Urteil über den Frankfurter Kongreß für
zu weit getriebene Schwarzseherei, unterstützten aber, wie in Frankfurt so
auch hier seine Stellungnahme gegen gewisse partikularistische Tendenzen der
Süddeutschen sowie gegen deren Zugeständnisse an mittelbäuerliche Interessen,
und die Versammlung nahm einstimmig folgende, von Bebel beantragte
Resolution an:
„Die Versammlung der Parteigenossen des zweiten Wahlkreises be-
dauert, daß der Parteitag sich nicht entschließen konnte, unseren Genossen
in den Landtagen in bezug auf die Abstimmung über das Budget
eine bestimmte Direktive zu geben, die um so notwendiger war,
da die Anzeichen sich mehren, daß die Zerfahrenheit und die Unklarheit über
die Einheit der Interessen und Grundsätze in der Zunahme begriffen sind.
Die Versammlung legt entschieden Protest ein gegen die Auslassungen
in dem Artikel der „Münchener Post" vom 30. Oktober d. I., über
schrieben „Betrachtungen über den Parteitag", in welchem unter dem