23
sich anfangs ablehnend verhalten und dann etliche Abmilderungen im
Bundesrat durchgesetzt hatte. Der alte Militär merkte, was die Glocke
geschlagen hatte, und reichte seine Entlassung ein, die ihm auch unverzüglich
bewilligt wurde. Die Ära Caprivi hatte ihr Ende gefunden.
4. Unter der Schaukelpolitik des Chlodwig Hohenlohe.
Caprivi war den Gegenminen der Eulenburg und Miquel erlegen,
aber die Sieger sollten mit leeren Länden ausgehen. Als Eulenburg, wie
die Form dies vorschrieb, gleichzeitig mit Caprivi um seine Entlassung ein
kam, nahm Wilhelm II. auch sie an, und statt Miquels, in dem manche
schon den Nachfolger Caprivis erblickt hatten und der sich auch mit
den Agrariern gut zu stellen verstand, ward der fünfundsiebzigjährige
Fürst Chlodwig Lohenlohe-Schillingsfürst Reichskanzler. Der
kluge Aristokrat, der bis dahin Statthalter von Elsaß - Lothringen gewesen
war, bedang sich indes aus, Reichskanzler und preußischer Minister
präsident in einer Person zu sein. So war er wenigstens nach einer
Seite hin vor Gegenminen gesichert. Im übrigen zeichnete sich seine
Amtsführung durch die Tendenz aus, möglichst nach keiner Seite hin
anzustoßen und die Stürmer und Dränger durch Hinhalten wenigstens zeit
weise unschädlich zu machen. Die Agrarier erhielten zwar ihre wieder
holt beantragte Verstaatlichung des Getreidehandels nicht, auch auf die
verlangte Einführung der Doppelwährung — die verkappte Silberwährung —
mußten sie verzichten, dafür aber ward ihnen ein Börsengesetz zuteil, das
die Effektenbörse und noch mehr die Produktenbörse verkrüppelte, zu
gleich jedoch Mitursache wurde, daß der Bankdiskont sich in Deutschland in
der Regel merkbar höher stellte als in England und Frankreich und die Groß
banken in fabelhaft raschem Wachstum auf Kosten der kleinen und mittleren
Bankiers an Ausdehnung und Macht zunahmen. Des weiteren erhielten
sie neue Geschenke auf dem Gebiete der Branntwein- und Zuckersteuer-
gesehgebung, Slaatshilfe in Gestalt der Zentralgenossenschafts
kasse für den Personalkredit und von staatlich subventionierten Korn-
(Lager-)Läusern, sowie ein Fleischbeschau-und Seuchengesetz, das
faktisch einem Schutzzoll auf Vieh- und Viehprodukte gleichkam, über
flüssig zu sagen, daß sie mit diesen Zuwendungen durchaus nicht zufrieden
waren, sondern munter weiter „schrieen".
Den Großen der Jndusttie, die gleichfalls nicht locker ließen, wurde im
Juni 1896 der ihnen verhaßte Lerr von Berlepsch geopfert, der unter
andcrm das Verbrechen begangen hatte, im Februar 1896 den Streik der
Arbeiter der Wäsche- und Kleiderkonfektion in Berlin für gerechtfertigt zu
erklären, und in einer Verordnung über Bäckereien eine Mindestruhe für
Bäckergesellen vorzuschreiben; er ward durch den farblosen Brefeld ersetzt,
der es indes den Lerren auch nicht recht machen konnte. Noch schlimmer sollte
es ihnen mit dem Grafen von Posadowsky-Wehner ergehen, der ein Jahr
später anstelle des Lerrn von Bötticher Staatssekretär des Innern wurde.
Man könnte sagen, daß ein Minister, der es nur einigermaßen mit seinem
Amt ernst nimmt, für die kapitalistischen Scharfmacher verloren ist, sobald
er sich genauer mit den Verhältnissen der Industrie und der Lage der
Arbeiter bekannt gemacht hat. Der Anfang des Grafen von Pos« ow y
schien allerdings den Erwartungen der Scharfmacher zu entsprechen.