26
Noch zur Zeit der Amtierung Böttichers kam im Reichstag die von
Eulenburg ausgearbeitete Am stürz vorläge in der von Caprivi gemilderten
Form zur Verhandlung. Aber nicht Bötticher verfocht sie vom Regierungs
lisch, sondern der Iustizminister von Schönstedt, der Polizeiminister von
Köller und — bezeichnenderweise — am lebhaftesten der Kriegsminister,
Lerr Bronsart von Schellendorf. Während der Reichskanzler zur Ver
teidigung des reaktionären Machwerks nur zweimal kurz das Wort nahm,
ließ der Vertreter der Bajonette sich nicht weniger als neunmal vernehmen.
Den Geist des Entwurfs, den von sozialdemokratischer Seite Auer, Bebel,
Frohme und Singer wirksam zerzausten, kann man daraus ersehen, daß
er dem Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs einen Zusatz geben wollte,
wonach „beschimpfende Angriffe" auf die Religion, die Ehe, die Familie
und das Eigentum mit bis zu zwei Jahren Gefängnis zu bestrafen
sein sollten. So die schon gemilderte Vorlage, womit zur Genüge angezeigt
ist, wie der ursprüngliche Text beschaffen war. Die Vorlage fiel, weil die
Nationalliberalen sich die Kulturkämpferei gegen die katholische Kirche nicht
unbequem machen lassen wollten, das Zentrum aber auf Bestimmungen zum
Schutz der Kirche bestand. Als es in der zweiten Lesung zur Abstimmung
kam, konnte nicht ein einziger Paragraph eine Mehrheit finden, und es
blieb von der Vorlage nichts übrig, als die Überschrift und die leer
gelassene Schlußphrase. Dafür veranlaßte Lerr von Köller das Berliner
Polizeipräsidium, den Vorstand der Sozialdemokratischen Partei für einen
politischen Verein zu erklären, und ihn, die sechs sozialdemokratischen
Wahlvereine von Berlin, sowie die Preßkommission, die Agitations-
kommission und die Lokalkommission samt dem, was man den „Verein
öffentlicher Vertrauensmänner der Sozialdemokratie" zu nennen beliebte,
polizeilich zu schließen, weil sie gegen die Paragraphen 8 und 16 des
preußischen Vereinsgesehes verstoßen hätten. Der Erlaß trug das Datum
des 29. November 1895. Er war die Abschiedsgabe des Äerrn von Köller,
der am 8. Dezember 1895 aus dem Amt schied und durch den Regierungs
präsidenten von der Recke ersetzt wurde, eine keineswegs bessere Nummer.
Die Gerichte, vor die der Polizeierlaß kam, stimmten dessen Auslegungen
nur zum Teil zu und verurteilten nur einen Teil der „Leiter" der ge-
gcschlossenen „Vereine". Die Sozialdemokratie aber betrieb nun als Antwort
im Reichstag die Schaffung eines Reichsvereinsgesetzes und erreichte es auch,
daß aufGrund ihres Antrags ein Kommissionsentwurf desReichstags zustande
kam, der trotz großer Mängel doch immerhin erträgliche Zustände geschaffen
hätte. Aus dem Entwurf wurde jedoch nichts, er schmolz zu einem „Not
gesetz" zusammen, das vom Reichstag am 17. Juni 1896 gegen die
Stimmen der Konservativen angenommen wurde und dessen einziger Artikel
lautete: „Inländische Vereine jeder Art dürfen mit einander in Verbindung
treten. Entgegenstehende landesgesetzliche Bestimmungen sind aufgehoben."
Es gelang, der Reichsregierung das Versprechen abzudrängen, wenigstens
dieses Stückchen Vereinsrecht in dieRcichsgesetze aufzunehmen, doch dauerte es
noch über drei Jahre, bis der Zusage die Ausführung folgte. Am 13. Dezember
1899 ward das Notvereinsgesetz amtlich verkündet, nachdem sich inzwischen
gezeigt hatte, daß die Sozialdemokratie auch ohne es auskam.
Einen Druck auf seine Annahme hatte die sozialdemokratische Reichs
tagsfraktion bei den Verhandlungen über das Bürgerliche Gesetzbuch