Nachgehende Fürsorge und Arbeitsbeschaffung für Krüppel.
Von Or. Wrede, Bigge i. Westf.
Neben die beiden primären Aufgaben der Krüppelfürsorge, das
körperliche Gebrechen des Krüppels zu beheben oder nach Möglichkeit
zu bessern und die durch das körperliche Leiden meist gehemmte
seelische Entwicklung zu leiten und zu fördern, tritt, durch die beiden
ersten in den meisten Fällen erst ermöglicht, als dritte Aufgabe, den
Krüppel, körperlich und sseelisch möglichst gefördert, als werte-
schaffendes Glied in die menschliche Gesellschaft einzugliedern.
Dieser Aufgabe will in erster Linie die Handwerksausbildung
dienen. Sie verfehlt aber ihren Zweck, wenn nicht dem Krüppel die
Möglichkeit gegeben wird, das Erlernte in seinem und der Gesellschaft
Interesse auszuwerten.
Bei dem zur Besprechung stehenden Thema ist zu unterscheiden:
die nachgehende Fürsorge und die Arbeitsbeschaffung oder, anders
ausgedrückt, die Sorge für die Persönlichkeit des Krüppels als In-
dividuum und seine Einreihung als schaffendes Glied in die Gemein-
schaft. Hierbei ist jedoch nicht zu übersehen, daß der Begriff „Nach-
gehende Fürsorge“ der Oberbegriff ist, der die Arbeitsbeschaffung mit
umfaßt.
Denken wir uns nun einmal hinein in die Seele des Gebrech-
lichen, der seine Gesellenprüfung bestanden hat und unmittelbar vor
der Entlassung steht. Ihm hängt der Himmel voller Geigen, er sieht
die Welt in hellem Lichte, von ihm fallen jettt die Bande, die ihn
bisher an ein bestimmtes und geregeltes, aber nach seiner Meinung
doch unfreies Leben banden, vor ihm öffnen sich die Schranken, die
seinem Betätigungstriebe und seinem Freiheitsdrange gesetzt waren,
jett lösen sich die Hemmungen der Seele, jetzt geht es hinaus in die
Freiheit, in die lockende, blühende Welt, und mit tausend Hoffnungen,
mit tausend Erwartungen und Ansprüchen ans Leben besteigt er das
tausendmastige Schiff, um mutig auf den Ozean des Lebens hinaus-
zusteuern.
Daß diese seelische Einstellung falsch, eine Psychose ist, weil der
Anstaltsentlassene in den meisten Fällen sein Können allzusehr über-
schäßt und das von der Welt vorgestellte Bild fast nie oder doch nur
in den seltensten Fällen den Erwartungen entspricht, das wissen wir
alle, die wir mitten im Leben stehen.