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Bedürfnisse des Volkes-erfüllt. Eine Polemik, die jüngst in der
sozialistischen Bewegung geführt worden ist, ist geeignet, den Ge
danken zu veranschaulichen. Einige der Unsrigen nämlich haben
gegen das System der Regierung durch Parteien die Schilde erhoben,
während sie in derselben Zeit eifrig bestrebt gewesen sind, selbst
eine neue Partei zu gründen und sie mit einer Verfassungsurkunde
auszustatten. Einen oberflächlichen Beurteiler wird dies natürlich
ein törichter Widerspruch dünken, wer aber tiefer in den Sinn der
Ausdrücke eindringt und ihren Wirklichkeitsgehalt entdeckt, wird
finden, daß von einem Widerspruch keine Rede ist. Der reale Wille
stimmt eben nicht mit dem Willen überein, der sich unter dem Ein
druck einer Stimmung oder eines Augenblicks manifestiert, sondern
der wirkliche Wille ist vielmehr der mit anderen Willensäußerungen
sowie den Kundgebungen des Gesamtwillens koordinierte Wille.
Auf diesem realen Willen aber beruht die Freiheit.
Es ist hier der Ort, einer weiteren Überlegung hinsichtlich des
Verhältnisses des Staates zum Individuum zu gedenken, da sie die
Ansicht bekräftigt, daß diese Beziehung nicht einfach passiv und
negativ, sondern auch aktiv und positiv sein muß. Des staatlichen
Schutzes erfreut sich das Individuum nicht als Wesen, das seinen
Zweck in sich selbst trüge; denn das gehört nur mittelbar zu den
Angelegenheiten des Staates. Mit dem Menschen als Selbstzweck
beschäftigen sich vielmehr das Sittengesetz und dessen freie leitende
Hut und Aufsicht. Dagegen interessiert er die politische Persönlich
keit der Gemeinschaft nur, weil das vollkommene Individuum einen
unentbehrlichen Bestandteil der vollkommenen Menschheit bildet,
welchem hehrsten Ziele die Gesellschaft zustrebt und der Staat seine
Dienste widmet. Für den Staat ist der Einzelne der Erbe der ver
flossenen Erfahrung der Menschheit, der Nutznießer ihrer erworbenen
Schätze, der Arbeiter am Schöpfungswerk menschlicher Vollkommen
heit, kein Selbstzweck, sondern nur ein Mittel zur Erreichung „jenes
in weiter Ferne liegenden göttlichen Zieles, dem die ganze Schöpfung
entgegengeht“.
Dieser Gedanke läßt sich auch so einkleiden: In erster Reihe befaßt
sich der Staat nicht mit dem Menschen als Inhaber von Rechten,
sondern als Erfüller von Pflichten. Ein Recht ist die Möglichkeit,
einer Pflicht zu genügen, und es sollte nur so weit anerkannt werden,