Full text: Sozialismus und Regierung

bereits betont, den Nutzen der humanitären sozialen Taten des 
Staates gefährden. Der Individualist und der bürgerliche Sozialre 
former empfehlen als Vorbeugung eine Revision des Dienstes der 
Armenpflege, eine Ausmerzung der Untauglichen, Tötung und ähnliche 
Auskunftsmittel. Der Sozialist steht auf einer höheren Warte. Er 
interpretiert den Rasseverfall als eine gesellschaftliche Erscheinung, 
als ein organisches Unwohlsein, das das Zellengewebe des sozialen 
Körpers zerstört. Wir befinden uns zur Stunde in einer mißlichen 
Lage. Die Kranken und Schwachen müssen wir beschirmen; denn 
unser moralisches Bewußtsein gebietet dies. Reine Sozialpolitik aber 
läßt befürchten, daß die Schwachen den Grundstock schädigen. 
Wollen wir sie eliminieren, so haben wir uns mit dem Problem der 
Armut in allen ihren Verzweigungen zu beschäftigen. Die Organi 
sation der gesellschaftlichen Solidarität — der Sozialismus — ent 
sprießt dem Schoße der Gesellschaft durch denselben Naturprozeß, 
der aus bestimmten mittelalterlichen Lebensnotwendigkeiten die 
feudale Lehensordnung hervorrief und der den individualistischen 
Liberalismus aus der Organisation des Weltmarktes erzeugt hat. 
B. RECHTE DES STAATES 
achdem wir die Pflichten des Staates betrachtet haben, lenken wir 
L N unseren Blick unwillkürlich auf seine Taten. In der sozialistischen 
Agitation ist vielfach die Auffassung vertreten worden, daß die Gesetz 
gebung überhaupt unfähig sei, ihre Funktionen zu erfüllen. Aber es 
muß hier doch beachtet werden, daß die Handlungen der gesetzgeben 
den Körperschaften schließlich nur den Willen der Gemeinschaft, je 
doch nicht denWillen einer Klasse, noch einer Mehrheit oder Minderheit, 
noch einer Partei, zum Ausdruck bringen können 1 . Beherrscht die 
öffentliche Meinung die Staatsentscheidungen, so bildet sie die Grund 
lage der Regierung. Das hervorstechende Kennzeichen einer Demo 
kratie ist nun aber, daß sie die zur Erreichung dieses Zweckes erforder 
liche Macht dem Volke anvertraut, sich nicht mehr im revolutionären 
Schilderheben betätigt, sondern sich als eine regierende Mehrheit äußert. 
Wer in einer Demokratie nicht an der Wahlurne Sieger bleibt, 
1 Hierüber -wird ausführlicher in Kap. III gehandelt, wo gezeigt wird, daß Mi 
noritäten die Initiative ergreifen können. Wollen aber solche Minoritäten er- 
folgreich sein, so müssen sie den Willen der Majoritäten zum Ausdruck bringen, 
selbst wenn sich die Majoritäten dessen nicht ganz bewußt sind. 
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