83. Erste Seite eines antisemitischen Flugblattes gegen die Sozialdemokratie
Ausruf!
3n der Blüthezeit des alten Athen bestand dort ein Gesetz, nach dem jeder Bürger rechtlos wurde,
der für Las Gemeinwesen in den Zeiten der Gefahr nicht kräftig eintrat. Das war ein gutes Gesetz, denn
es führte schnelle Entscheidung und längere Zeiten der inneren Ruhe herbei.
In unseren Tagen beendet sich unser deutsches Vaterland in einer Zeit der größten Roth und
Gefahr, und jeder Deutsche mutz sich dessen bewirstt sein, von welcher Seite die Noth gesteigert wird
und die Gefahr unaufhaltsam hereinbricht. Es Mte doch füglich keinen deutschen Mann geben, der geneigt
wäre, unser Jahrtausende altes und doch immer neu und kräftig pulsirendes Deutschthmn preiszugeben
und es, wenn es von fremdem Recht und von freinder Sitte unterdrückt, eingeschränkt oder auch nur bedroht
ist, nicht mit allen Mitteln, ja selbst mit Darangabe von <8ut und Blut zu retten und zu befreien.
Leider aber gilt für so Viele noch immer das alte Wort: „Was mich nicht brennt, das lösche ich
Nichts Ursprünglich ist es ja aus altgermanischem Trotze und Selbständigkeitsgefühl hervorgegangen, doch
heute ist es der Ausdruck einer unverantwortliche» Kurzsichtigkeit. Wenn die Gefahr Dir auch
heute noch nicht unmittelbar auf den Leib rückt, so brauchst Du doch nicht lange auf sie zu warten. Denn
wenn die Bürger zusehen, wie Socialdemokraten und Freisinn stch im öffentlichen Leben breit machen, wie
jedes Amt von ihnen besetzt wird, dann können zum Schaden des soliden Bürgers nur die Geschäfte storiren,
welche von den Machthabern geschützt werden, und was sind dies für Geschäfte? Ramschbazare und die Börse.
Tausende von solide» Existenzen sind vernichtet worden. Vielleicht schon morgen kommst Du
an die Reihe, und wenn nicht mehr Du, daun gewiß Deine Familie, Deine Kinder! —
Und wie verhält sich der solide Bürger bei dieser Gefahr? Das lehren uns die Wahlen. Bei der
letzten Rcichstagswahl im 6..Berliner Wahlkreise haben z. B. 65 808 Wähler stch betheiligt und 80422
sind zu Hause geblieben. Die Vorfrucht der Sozialdemokratie, der Freisinn, hatte sich garnicht bei der
Wahl bethätigt und unser Kandidat, Herr Rechtsanwalt Ulrich, hat nur lO 490, das Centrum 1116, die
Sozialdemokratie 63 896 Stimmen erhalten, wer sind nun die 90 422 Wähler? Die solidesten, die sich um
keine Politik kümmern; ist das recht? Die Sozialdemokratie geht munter vorwärts, jeder Arbeiter in den
Verbänden zahlt 20 Pfennig pro Woche, d. h. in 6 Jahren also zu einer Reichstagswahl 62 Mark. Was
giebt der Leser? Fast nichts. Hierdurch kann die Sozialdemokratie viele Agitatoren re. unterhalten, große
Gewerkschaftshäuser bauen, wo die Herren nur auf den Knopf drücken, um die Arbeiter antreten zu lassen
und bald hier, bald dort einen Streik zu veranlassen. Kann durch das Verhetzen die Lage der Arbeiter
dauernd gebessert werden? oder werden dadurch nur die allgemeinen Verhältnisse in die Höhe getrieben?
z. B. die jetzige Wohnungsnoth, ist der Kapitalmarkt allein daran Schuld oder auch die lautesten Schreier
über die Wohnungsnoth? Ein Bau, welcher vor 15 Jahren 40 000 Mark Arbeitslohn kostete, kostet heute
65000 Mk., dazu kommt, daß ein Maurer damals 700 bis 800 Steine an einem Tage vermauerte, heute
aber nur 300 bis 400 Steine, d. h. eine Verdopplung des hohen Lohnes: also ein Bau, welcher früher
40000 Mark kostete, erfordert heute 130 000 Mark Arbeitslohn. Die Folge davon ist. daß cs sich für
Niemand mehr lohnt, Arbeiterwohnungen zu bauen. Das sind die Folgen der Hetzereien.
Wenn der Freisinn die Majorität in Preußen hätte, würden die Beamten den Unterschied fühlen:
keine Gehaltszulagen, keine Pension, das ist des Freisinnigen Prinzip. Wie der preußische Kultusminister