Full text: Die Berliner Arbeiterbewegung von 1890 bis 1905

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Caprivi, Berlepsch, Boetticher usw. gegenüber eine andere Sprache als 
gegenüber den Bismarck, Puttkamer, Eulenburg und Genossen, aber das 
galt lediglich den Personen, von denen man wußte, daß jeder Tag ihre 
Entlassung bringen konnte. Denn gleichzeitig wußte man auch und konnte 
es aus Regierungserklärungen immer wieder aufs neue bestätigt erhalten, 
daß die Reformen, soweit sie nicht aus rein technischen Gründen nbtig geworden 
waren, nicht als Anfänge einer großen und systematischen politischen und 
wirtschaftlichen Reforinpolitik, sondern bloß zu dem Zweck ins Werk gesetzt 
wurden, der Sozialdemokratie möglichst Abbruch zu tun. Von einer Erweiterung 
der Volksrechte war nicht die Rede, die kleinen Verbesserungen sollten im 
Verein mit der Arbeiterversicherung das Wunder tun, in einer Zeit ununter 
brochenen Wachstums der Arbeiterklasse diese von der Partei ihrer Klasse 
abwendig zu machen. Als wenn es nie einen Dichter gegeben hätte, der 
eine geschichtliche Wahrheit in die eindrucksvollen Verse niedergelegt hätte: 
„Noch ist kein Fürst so hoch gefürstet, 
So hoch gestellt kein ird'scher Mann, 
Daß, wenn die Welt nach Freiheit dürstet, 
Er sie mit Freiheit tränken kann. 
Daß er allein in seinen Länden 
Die Schale alles Rechtes hält, 
Davon den Völkern auszuspenden, 
Soviel, sowenig ihm gefällt." 
Das genau Entgegengesetzte bekamen die Arbeiter vom Träger der 
Krone zu hören. Schon in der Ansprache an die Deputation der westfälischen 
Bergleute vom 16. Mai 1889 hatte es nach offizieller Darstellung geheißen: 
„Sollten aber Ausschreitungen gegen die öffentliche Ordnung und 
Ruhe vorkommen, sollte sich der Zusammenhang der Bewegung mit 
sozialdemokratischen Kreisen Herausstellen, so würde ich nicht imstande 
sein, eure Wünsche mit Meinem königlichen Wohlwollen zu erwägen. 
Denn für Mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit 
Reichs- und Vaterlandsfeind. Merke Ich daher, daß sich sozial 
demokratische Tendenzen in die Bewegung mischen und zu ungesetzlichem 
Widerstande anreizen, so würde Ich mit unnachsichtlicher Strenge ein 
schreiten und die volle Gewalt, die Mir zusteht — und die ist 
eine große — zur Anwendung bringen." 
Solche Betonungen des persönlichen Regiments und der Feindschaft 
gegen die Sozialdemokratie wiederholten sich in wechselnden Formen immer 
von neuem, ergänzt durch Berufungen aus die Macht des Kaisers und 
Königs über die Armee und mittels der Armee über die Nation. „Der Soldat 
und die Armee, nicht Parlamentsmajoritäten und -Beschlüsse haben das 
Deutsche Reich zusammengeschmiedet," hieß es in einer Ansprache vom 
18. April 1891, und „Mein Vertrauen beruht auf der Armee." Sieben 
Monat später, am 23. November 1891, erfolgte die Rekrutenvereidigung 
in Potsdam, bei der, nach der „Neißer Zeitung", der Kaiser den Rekruten 
der Potsdamer Garderegimenter im Anschluß an deren Ableistung des 
Fahneneides zurief: 
„Ihr habt Mir Treue geschworen, das — Kinder Meiner Garde — 
heißt, ihr seid jetzt Meine Soldaten, ihr habt euch Mir mit Leib und 
Seele ergeben; es gibt für euch nur einen Feind und der ist Mein 
Feind. Bei den jetzigen sozialistischen Amtrieben kann es vorkommen, 
daß Ich euch befehle, eure eignen Verwandten, Brüder, ja Eltern nieder- 
zuschießen — was ja Gott verhüten möge —, aber auch dann müßt 
ihr Meine Befehle ohne Murren befolgen."
	        
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