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2. Abschnitt. Grundlegung u. Ausbau der Sozial- ». Wirtschaftspolitik.
Von der Lösung der Frage, wie in diesen Grundproblemen die Grenzlinie
für die Gegensätze so abgesteckt werdet: kann, daß letztere anstatt zu einer vernich
tenden gegenseitigen Bekämpfung vielmehr zu einer sich befruchtenden Wechselwirkung
ausgelöst werden, hängt die wirtschaftliche Machtstellung des deutschen Volkes, Sein
oder Nichtsein: seines Kredits, seines öffentlichen Lebens, seiner militärischen und
finanziellen Schlagfertigkeit, seiner öffentliche:: Geltung unter den Nationen des
Erdballs ab.
9teu ist, daß durch die mittlerweile eingetretene Sicherung und Erhöhung des
Arbeitsverdienstes das soziale Zeitproblen: durch die noch aktuellere Welt- und See
machtspolitik zurückgedrängt worden ist. Der bisherige Standpunkt der Sozialethiker
ist — diese Verschiebung wird noch zu wenig beachtet — durch die neueste Entwicklung
in gleicher Weise, wie der der Krisentheoretiker überholt. In Deutschland wenigstens
hat die Entwicklung dahin geführt, daß die früher brennende Arbeiterfrage in den
letzten Jahrzehnten auf einzelne Herde, nämlich die Großstädte und Fnbrikbezirke,
lokalisiert worden ist; das heißt: sie ist heute eine solche, für deren Lösung die
besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Großstadt, Fabrikorte und Industrie-
bezirke entscheidend sind. Dementsprechend ist die heutige Lage des Arbeiterstandes
nicht mehr derart, daß die sozialethische Fürsorge hierfür, wenn sie gleich den Ein
schlag in die moderne Weltanschauung bleibend bilden wird, doch den zwingenden
Mittelpunkt für die staatliche Wirtschaftspolitik abzugeben vermöchte. Heute
bildet der zusammenfassende, durch die Sozialethik zu korrigierende Gesichtspunkt
der fortschreitenden Industrialisierung des Deutschen Reiches und des
Wirtschaftslebens der ganzen Welt, also die Sozial- und Weltpolitik die dirigierende
Richtlinie für jeden Regierungseingriff. Die Weltmachtstellung des Reiches und seine
innere Gesundung (die sozialethische Versöhnungsarbeit), m. a. W. die Weltpolitik
und die dai:ach geregelte innere Wirtschaftspolitik stehen miteinander in einem
inneren Zusammenhangs. Zugleich stehen die kulturelle Hebung und Stärkung des
Arbeiterstandes, so:vie die industrielle mld koinmerzielle Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit
zu einander als ebenbürtige wirtschaftliche Notwendigkeiten in dem Verhältnis vor: Ziel
und Vorbedingung und in einer inneren und ursächlichen Wechselwirkung. Dieses Ver-
') Die ausführliche Begründung dieses Programms hat Verfasser in seinem 1901 er
schienenen Werk „Deutschland als Industriestaat" S. 138, 144—145, 146—194, 258 ff. und
in den dortigen Ausführungen über „Neumerkantilistische Seepolitik, Kultivationstechnik, Mo
dernisierung des liberalen Grundgedankens" gegeben. — Vergl. auch über die „Grundgedanken
des neubritischen Imperialismus" Schnlze-Gaevernitz „Britischer Imperialismus und englischer
Freihandel" 1906. S. 84—87. —
Die praktische Aufgabe des Staatsmannes besteht darin, daß er die Richtung und die
Grenzlinie ermittelt, und die Organisation einrichtet, innerhalb deren sich die Gegensatze aus
leben können; anstatt daß der eine in das Gebiet des andern übergreift, oder das Walten des
andern Prinzips ganz auszuschalten sucht, sollen vielmehr beide sich gegenseitig fördern.
Die Sicherheit einer solchen Wechselwirkung könnte durch eine Organisation von Staat,
Gemeinde und Nächstbeteiligten und ein System staatlicher und privater Einrichtungen eingeleitet
werden, wodurch die stetige, der Stärkung der industriellen und kommerziellen Leistungs- und
Konkurrenzfähigkeit entsprechende Lohnerhöhung, die Sicherheit der Beschäftigung und des Vor
ankommens, die auf dem Fuße der Gleichberechtigung voranschreitende Verbesserung der Arbeits
bedingungen gesichert und gefördert wird.