Full text: Der gesetzgeberische Ausbau des Deutschen Reiches und seine Wirtschaftlichkeitspolitik

78 
2. Abschnitt. Grundlegung u. Ausbau der Sozial- ». Wirtschaftspolitik. 
Von der Lösung der Frage, wie in diesen Grundproblemen die Grenzlinie 
für die Gegensätze so abgesteckt werdet: kann, daß letztere anstatt zu einer vernich 
tenden gegenseitigen Bekämpfung vielmehr zu einer sich befruchtenden Wechselwirkung 
ausgelöst werden, hängt die wirtschaftliche Machtstellung des deutschen Volkes, Sein 
oder Nichtsein: seines Kredits, seines öffentlichen Lebens, seiner militärischen und 
finanziellen Schlagfertigkeit, seiner öffentliche:: Geltung unter den Nationen des 
Erdballs ab. 
9teu ist, daß durch die mittlerweile eingetretene Sicherung und Erhöhung des 
Arbeitsverdienstes das soziale Zeitproblen: durch die noch aktuellere Welt- und See 
machtspolitik zurückgedrängt worden ist. Der bisherige Standpunkt der Sozialethiker 
ist — diese Verschiebung wird noch zu wenig beachtet — durch die neueste Entwicklung 
in gleicher Weise, wie der der Krisentheoretiker überholt. In Deutschland wenigstens 
hat die Entwicklung dahin geführt, daß die früher brennende Arbeiterfrage in den 
letzten Jahrzehnten auf einzelne Herde, nämlich die Großstädte und Fnbrikbezirke, 
lokalisiert worden ist; das heißt: sie ist heute eine solche, für deren Lösung die 
besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Großstadt, Fabrikorte und Industrie- 
bezirke entscheidend sind. Dementsprechend ist die heutige Lage des Arbeiterstandes 
nicht mehr derart, daß die sozialethische Fürsorge hierfür, wenn sie gleich den Ein 
schlag in die moderne Weltanschauung bleibend bilden wird, doch den zwingenden 
Mittelpunkt für die staatliche Wirtschaftspolitik abzugeben vermöchte. Heute 
bildet der zusammenfassende, durch die Sozialethik zu korrigierende Gesichtspunkt 
der fortschreitenden Industrialisierung des Deutschen Reiches und des 
Wirtschaftslebens der ganzen Welt, also die Sozial- und Weltpolitik die dirigierende 
Richtlinie für jeden Regierungseingriff. Die Weltmachtstellung des Reiches und seine 
innere Gesundung (die sozialethische Versöhnungsarbeit), m. a. W. die Weltpolitik 
und die dai:ach geregelte innere Wirtschaftspolitik stehen miteinander in einem 
inneren Zusammenhangs. Zugleich stehen die kulturelle Hebung und Stärkung des 
Arbeiterstandes, so:vie die industrielle mld koinmerzielle Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit 
zu einander als ebenbürtige wirtschaftliche Notwendigkeiten in dem Verhältnis vor: Ziel 
und Vorbedingung und in einer inneren und ursächlichen Wechselwirkung. Dieses Ver- 
') Die ausführliche Begründung dieses Programms hat Verfasser in seinem 1901 er 
schienenen Werk „Deutschland als Industriestaat" S. 138, 144—145, 146—194, 258 ff. und 
in den dortigen Ausführungen über „Neumerkantilistische Seepolitik, Kultivationstechnik, Mo 
dernisierung des liberalen Grundgedankens" gegeben. — Vergl. auch über die „Grundgedanken 
des neubritischen Imperialismus" Schnlze-Gaevernitz „Britischer Imperialismus und englischer 
Freihandel" 1906. S. 84—87. — 
Die praktische Aufgabe des Staatsmannes besteht darin, daß er die Richtung und die 
Grenzlinie ermittelt, und die Organisation einrichtet, innerhalb deren sich die Gegensatze aus 
leben können; anstatt daß der eine in das Gebiet des andern übergreift, oder das Walten des 
andern Prinzips ganz auszuschalten sucht, sollen vielmehr beide sich gegenseitig fördern. 
Die Sicherheit einer solchen Wechselwirkung könnte durch eine Organisation von Staat, 
Gemeinde und Nächstbeteiligten und ein System staatlicher und privater Einrichtungen eingeleitet 
werden, wodurch die stetige, der Stärkung der industriellen und kommerziellen Leistungs- und 
Konkurrenzfähigkeit entsprechende Lohnerhöhung, die Sicherheit der Beschäftigung und des Vor 
ankommens, die auf dem Fuße der Gleichberechtigung voranschreitende Verbesserung der Arbeits 
bedingungen gesichert und gefördert wird.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.