60 Viertes Kapitel. Das griechische Wirtschaftssystem.
Diese Konzentration großer Massen freier Arbeiter mußte in dieser
Periode die Anschauung hervorrufen, daß eigentlich die Arbeiter
die Reichtumschaffenden seien, und wir finden denn auch gelegent
lich Bemerkungen darüber, daß nicht die Leute aus den alten Pa
triziergeschlechtern, sondern die Steuermänner und die Arbeiter
auf den Werften Athen reich gemacht hätten (Pseudo-Xenophon,
Verfassung der Athener 1). Nur die Übermacht zur See konnte
den Athenern alle diese Vorteile verschaffen, nur sie sicherte
den Export und Import (Pseudo-Xenophon, Verfassung der
Athener 2).
Da die Perserkriege die Getreideversorgung Griechen
lands aus den Ländern des Schwarzen Meeres — fuhren doch
Getreideflotten nach Athen, Ägina und dem Peloponnes (Herodot
VII, 147) — gestört hatten, war es eine der ersten Sorgen der
Griechen, nach der Besiegung der Perser Byzanz und damit den
Bosporus in ihre Gewalt zu bekommen. Die mannigfachen Nach
teile, welche die Abhängigkeit vom Getreideimport mit sich brachte,
wurden zum Teil dadurch ausgewogen, daß man nun frei von
lokalen Mißernten war (Xenophon, Verfassung der Athener 2).
Die wachsende Bedeutung der Seemacht ließ allmählich immer mehr
Staaten an der Getreidezufuhr aus fremdern Ländern teilnehmen,
und aus Ägypten erhielt nicht nur Athen (Thucydides Vili, 35),
sondern gelegentlich auch das im Felde stehende spanische Heer
Getreide (Diodor XIV, 79). Mit den politischen Staaten stand
man derart, daß die athenischen Getreidehändler dort manche Be
vorzugung genossen (Jsokrates, Wechslerrede 19). Solange die
Flotte Athens stark genug war, konnte eine weitgehende wirt
schaftliche Abhängigkeit von der ausländischen Produktion bestehen,
ohne daß die politische hinzukam, und ohne daß man gerade ge
zwungen gewesen wäre, die Herrschaft über die Getreide produ
zierenden Länder anzutreten. Es konnten Länder wirtschaftlich be
herrscht werden, ohne daß man sie politisch unterjochte, wie etwa
im Anfang des 19. Jahrhunderts das freie Amerika in stärkster
wirtschaftlicher Abhängigkeit von England stand. Eine Flotte, die
unerwünschte Eingriffe zu verhindern wußte, reichte im allgemeinen
aus und vermochte einen leidlichen Zustand zu einer Zeit auf
rechtzuerhalten, da das internationale Privatrecht noch unent
wickelt war. Letzteres wurde überhaupt mehr Bedürfnis, als es
sich um zahlreiche Kaufabschlüsse und Kreditgewährungen im klei
neren Stil handelte. Um jene großen Transaktionen zu sichern,